In der Nähe des Büros gibt es jetzt eine Kita. Frisch gebaut, von den Kollegen herbeigesehnt, endlich eröffnet. Für- und Vorsorge treiben die Stadt um, die kleinen Menschen sollen gut geschützt werden, also stehen an der Straße neue, runde Schilder, je mit einem roten Kreis auf weißem Grund, garniert mit der Angabe 30 km/h.
Die Kollegen freuen sich: „Das wurde auch mal Zeit, dass sich da einer drum kümmert!“, so die einhellige Meinung. Nach wenigen Wochen geht die Maulerei aber doch los. Die besorgten Eltern beschweren sich: „Ein Schild allein reicht doch nicht!“ Sie wünschen sich einen Starenkasten, also eine Radarfalle, etwas, was sie sonst mit Vokabeln wie „Freiheitsberaubung“ oder zumindest „Geldschneiderei“ belegen und aus tiefstem Herzen ablehnen. Ich bin begeistert. Endlich wollen sie der Raserei Einhalt gebieten – also eher gebieten lassen.
Die Behörden handeln, noch bevor auch nur ein einziges Kind zu Schaden gekommen ist. Der Starenkasten wird installiert. Bravo! Die Eltern beruhigen sich wieder.
Auf der Fahrt zum Büro und auch auf dem Weg nach Hause sehe ich seither vor mir immer wieder das typische rote Blitzen aus dem Starenkasten, gefolgt vom roten Aufblitzen der Bremslichter an den mir vorauseilenden Fahrzeugen.
„Geldschneiderei“ wird im Büro wieder zum Thema, als der erste sich darüber beschwert, dass er, also ausgerechnet er, der er immer weiß, was er tut, der er immer alles fest im Griff hat, dass also er, das muss man sich mal vorstellen, dort zu einer Zeit geblitzt wurde, zu der die Kita bereits geschlossen hatte. „Woher soll der Starenkasten wissen, wann genau da Kinder gefährdet werden? Und auch noch, von wem genau nicht?“, fragt einer der Vernünftigen. „Das ist mir egal, wie die das machen! Die sollen gefälligst nicht mich blitzen!! Ich habe das doch im Griff, ich gucke ja schon, ob da Kinder rumlaufen!!!“
Muss wohl teuer gewesen sein. Er regt sich richtig auf. Sein Kopf ist jetzt so rot wie der Rand des Verkehrsschilds. Seine Faust ist geballt, laut knallt sie auf den Tisch.
Bis eben stand auf dem Tisch noch ein Becher mit Joghurt, darin noch ein Rest der Pegelhöhe Zwei-Finger-Breit, darauf quer ausbalanciert ein kleiner Löffel.
Die ganze Gruppe ist in Bewegung geraten. Der mit der geballten Faust zuckt zusammen und verzieht schmerzerfüllt sein Gesicht, denn er hat die Tischkante erwischt. Der Herr des Joghurts springt nach hinten, weil sein Becher nebst Inhalt lustig auf ihn zuspringt und er seinen feinen Zwirn zu retten trachtet. Sein Nachbar erschrickt und verschüttet Kaffee – natürlich auf den feinen Zwirn des Joghurt-Herrn, wohin denn sonst! Eilig gezückte Taschentücher helfen, das Gemisch aus Joghurt und Kaffee in den Zwirn einzumassieren. Die Beteiligten empfehlen sich bald gen Toilette, sie hoffen, den Schaden noch vor Beginn der nächsten Besprechung eingrenzen zu können.
Von den verbliebenen Kollegen mag niemand mehr über Verkehrsregeln diskutieren. Es wird ja auch wieder Zeit, die Arbeit ruft.
In mir reift die Erkenntnis, dass so etwas wie diese Radarfallen-Nummer eine Richtung hat. Ich befürchte, dass es weitere Beispiele gibt. Also widme ich dem beobachteten Effekt in den nächsten Tagen und Wochen meine Aufmerksamkeit.
Im Büro fordern einige Leute lautstark neue Prozesse und Software-Funktionen ein. Ziel ist, dass die Leute ganz leicht alles finden, was sie gerade so brauchen. So weit, so schön. Die neuen Prozesse und Funktionen sollen dann automatisch verhindern, dass Kollegen Daten schlechter Qualität ablegen können. Gemeint sind selbstverständlich nur andere Kollegen, damit also gewiss nicht die Ideengeber selbst.
Sie selbst müssen schließlich pfeilschnell, effektiv und ohne lästige Zwänge handeln können. Sie selbst sind viel zu wichtig, als dass sie diesen Quatsch mitmachen können, als den sie die Hürden bezeichnen, die zwangsläufig mit der Erfüllung ihrer Wünsche einhergehen würden. Sie selbst merken auch lieber nicht, dass da was nicht stimmt. Oder sie folgen unbeirrbar dem Prinzip: „Du erkennst, dass Du im Unrecht bist? Werde laut!“ Wer weiß das schon…
Soll das Programm jetzt raten, wer sich auskennt, wen es nicht behindern darf, wen es aber sehr wohl gängeln soll? Soll es dann auch noch raten, was der werte Kollege sich dabei so gedacht hat? Soll es dessen Arbeit dann besser gleich auch noch machen? Braucht man ihn dann noch? Solche Fragen verbieten sich natürlich. Sie führen auch nicht weiter. Schließlich hat das Ding eine Richtung!
Im Internet zielen zahlreiche Algorithmen auf die Erfüllung vermuteter Bedürfnisse. Sie werden besser, aber sie machen mich nicht wirklich glücklicher. Vielleicht weiß ich sie nur nicht ausreichend zu würdigen. Ich bekomme Dinge angeboten, die ich entweder schon längst gekauft habe oder für die ich mich jetzt doch nicht mehr so brennend interessiere. Die Algorithmen raten ständig, was mich als nächstes umtreiben könnte – und ich freue mich darüber einfach nicht in angemessener Weise.
Ich gehe davon aus, bestimmte Sachen im Netz gar nicht finden zu können, weil sie meinem Suchprofil nicht entsprechen. Klar, mit etwas Mühe kann ich einen Teil dieser Analysen sicher blockieren oder in die Irre führen, aber ich werde dem Effekt nicht entkommen. Wenn es mir gelingt, das alles als Hilfestellung und Service zu empfinden, geht es mir sicher besser.
Ja, ich gebe sehr gerne zu, dass ich heute im Netz mit extrem wenig Aufwand und auch mit sehr schlampig formulierten Frage-Fragmenten erstaunlich gute Treffer erzielen kann. Das möchte ich auch nicht mehr missen! Ich ticke da gar nicht anders als andere Leute.
Eine Nachbarin von uns verteidigt mit Zähnen und Klauen den Parkplatz vor ihrer Tür. Direkt neben ihrem Haus befindet sich ihre Garage nebst großem Garagenvorplatz. Ich stehe meistens vor unserer Garage, Gitti parkt ihr Auto in der Garage. Also parke ich um, wenn sie raus muss, hin und wieder steht der Wagen dann vor der Tür der Nachbarin. Aus deren Perspektive stehe ich natürlich immer und nur und vor allem in unerträglich unverschämter Weise vor ihrem Haus, auf ihrem Platz. Pfui!
Bei der Stadt hat sie nach jahrelangem Kampf schon ein Anwohner-Parken durchgesetzt, aber wenn ich dann komme, ja dann war wohl alles umsonst. Manchmal parkt sie dann zur Strafe selbst auf der Straße, vor ihrem Haus, auf ihrem Platz – welch ein Triumph! Sie kann nicht sehen, was ich sehe, sie guckt halt immer nur aus der anderen Richtung. Ich mag sie nicht, und doch tut sie mir auch ein bisschen leid.
Bei mir selbst, im Supermarkt, auf der Straße, im Freundeskreis, egal wo, es läuft nicht besser. Die Welt ist vollgestopft mit Richtungen. Das macht uns Menschen aus. Wer den Fehler findet, der darf ihn gerne behalten. Wir sind kauzig, manchmal völlig irrational, selten wirklich gerecht und irgendwie doch liebenswert.