Du betrachtest gerade Alles klar

Alles klar

Einer guten Tradition folgend, steht am Ende eines gelungenen Verständigungsprozesses die positive Beantwortung der Frage, ob alles klar ist.

Das kann man natürlich auch weniger sperrig ausdrücken. Was soll das also hier?

Mich treibt es um!

Ein Problem taucht auf und verlangt nach einer Lösung. Ein paar Menschen haben den Auftrag, sich um das Problem zu kümmern. Sie beraten darüber und verständigen sich auf Maßnahmen. Später stellen sie fest, dass bei ihrer Verständigung leider nicht alle dasselbe gemeint haben. Wenn es um Kleinigkeiten geht, dreht man in solch einer Situation halt noch eine Runde, räumt Missverständnisse aus und trägt seinen Teil zur Lösung des Problems bei. Wenn es um mehr geht, stehen jedoch plötzlich alle gemeinsam an einer Art Weggabelung. Hier müssen sie sich entscheiden, ob und wie es weitergeht.

In der einen Richtung sehen die Aussichten vielleicht so aus: Erbitterter Streit liegt in der Luft. Großer Frust macht sich breit. Beschuldigungen und Unterstellungen fliegen durch den Raum. Das Übel nimmt seinen Lauf. Man kann schon froh sein, wenn die Kontrahenten auf gegenseitige Beleidigungen verzichten und nicht alles kleinreden, was sie bisher gemeinsam erreichen konnten.

Ihr aktuelles Problem liegt unterdessen ungelöst herum. Deshalb landen die Kontrahenten auf einem kleinen Rundweg – und der mündet kurz vor der Gabelung wieder in denselben Weg, auf dem sie vorher schon herumspazierten.

Frustriert erkennen sie es wieder, und es kommt noch schlimmer: Aus lauter Langeweile hat sich ihr Problem mit anderen, neuen Problemen zusammengetan. Gemeinsam warten sie an der Gabelung schon sehnsüchtig darauf, dass jemand kommt, sich ihrer annimmt und sie löst.

Gab es an der Weggabelung nicht noch eine andere Richtung? Wird dieser andere Weg genauso mühsam sein? Was, wenn ich die Ideen der anderen Leute nicht gut finde, das Problem aber ohne sie nicht lösen kann? Ich werde Kompromisse ausloten müssen, so schwer es mir auch fällt. Es geht darum, die Lage mit den anderen zusammen wenigstens in kleinen Schritten zu verbessern. Dazu braucht man viel Zuversicht und Vertrauen. Um beides zu nähren, hält man explizit fest, worauf man sich einigt. Je schwieriger sich ein Kompromiss gestaltet, desto genauer wird die Formulierung sein müssen, mit der man sich auf ihn verständigt. Deshalb liest sich das später vielleicht auch so sperrig.

Am Ende schaut man sich in die Augen und fragt sich gegenseitig, ob alles klar ist. Und dann geht es weiter – zumindest bis zur nächsten Gabelung.

Wenn gar keine Lösung gefunden wird, muss sich jemand anders um das Problem kümmern oder zumindest eine Entscheidung treffen, die für alle bindend ist. Und auch dann geht es weiter.

Was ich da gerade so theoretisch beschrieben habe, findet in der Praxis nicht nur auf den politischen Bühnen unserer Welt statt. Unser Alltag ist voll davon. Nur Mut! Auf unseren Wegen liegen haufenweise Chancen herum. Und von solch einer erzähle ich jetzt:

Gitti und ich schlendern durch die Porzellanabteilung eines Kaufhauses. Wir kundschaften in Ruhe das reichhaltige Sortiment aus. Mir fällt ein Pärchen auf. Auch sie begutachten die feilgebotenen Waren. Über Teller, Tassen, Kannen und Schüsseln hinweg diskutieren sie lautstark über mögliche Freizeitaktivitäten ihres Kindes. Ganz klassisch prallen Vorschläge aus zwei Grundrichtungen aufeinander: Sportverein und Musikschule. Das verspricht, spannend zu werden!

Bald ist klar, dass nur eine der beiden Aktivitäten finanziert werden kann und soll. Boxen und Fagott werden sofort kategorisch abgelehnt. Leider werden keine näheren Gründe dafür vorgebracht.

Das Thema Fagott ruft beim Vater des Kindes ein angewidertes Gesicht hervor. Ist es so schwer vorstellbar, dass ein junger Mensch am Lagerfeuer sitzt, sein cooles Fagott zückt und darauf die aktuellsten Hits anstimmt?

Aus der Miene der Mutter schließe ich, dass sie ihr Kind nicht auf die Welt gebracht haben möchte, damit es sich später regelbasiert im Ring verprügeln lässt.

In den nächsten Minuten fliegen weitere Musikinstrumente und Sportarten verbal über die Warenauslage. Der Ton verschärft sich, die Luft wird dicker, die Spannung ist greifbar. Es ist keine Annäherung in Sicht. Gitti fragt mich leise, ob das Kind wohl schon nach seinen eigenen Wünschen befragt wurde. Zwischen dem Geschirr stehen auch ein paar Weingläser. Synchron fahren wir beide jeweils mit einer Fingerkuppe über einen Glasrand, bis ein hübscher Ton erklingt.

Nach einer Weile versucht das Elternpaar, ein paar Argumente auszutauschen. Zuerst geht es immer nur darum, wieso der Vorschlag des anderen nicht akzeptabel ist. Wir erfahren, dass Kampfsportarten zu gefährlich sind und ein Glockenspiel aus dem armen Kind bald ein Mobbingopfer machen wird, wieso auch immer. Ich denke an „Tubular Bells“ von Mike Oldfield und summe leise vor mich hin. Beide Elternteile wollen ihr Kind schützen. Jeder von ihnen hält inzwischen einen Teller in der Hand. Sie kreisen um den Tisch, auf dem das Porzellan steht. Zerschlagt es bitte nicht!

Plötzlich bleiben die beiden wie angewurzelt stehen. Sie blicken einander tief in die Augen. Ohne Worte verankern sie sich dort. Nach ein paar Sekunden entspannen sich ihre Gesichtszüge. Behutsam stellen sie die Teller zurück. Ich atme erleichtert aus und tausche die Schüssel in meiner Hand gegen eine hübsche Espressotasse.

Gitti und ich erfahren ab jetzt mehr und mehr, wozu eine musikalische Ausbildung gut sein könnte und was für sportliche Aktivitäten spräche. Einträchtig steht das Paar inzwischen nebeneinander und begutachtet Details des ausgestellten Geschirrs. Sie reichen einander Porzellanteile und stellen sie anschließend behutsam wieder zurück. Ihr Gespräch konzentriert sich darauf, was sie erreichen möchten. Danach erst wollen sie darüber reden, welche Freizeitaktivität dazu geeignet erscheint und ob sie damit auch das Interesse ihres Kindes wecken können.

Einigkeit erzielen sie schnell bei diesen Gedanken: Wenn man lernt, mit beiden Händen gleichzeitig unterschiedliche Sachen zu machen, dann entstehen dabei tolle Vernetzungen im Gehirn. Körperliche Fitness trägt zu einer stabilen Gesundheit bei. Soziale Fähigkeiten stärkt man leicht mit Aktivitäten in der Gruppe.

So geht das eine Weile. Und auf einmal ist den beiden offensichtlich klar, was sie ihrem Kind vorschlagen möchten. Glasklar, sonnenklar, klar auf der Hand liegend, vor allem super und geradezu genial finden sie ihre Idee – und genau das rufen sie gemeinsam laut heraus. Unerklärlich ist ihnen, wieso sie nicht früher darauf gekommen sind!

Leider lassen sie Gitti und mich nicht an ihrem konkreten Vorschlag teilhaben. Aber sie ergreifen jeder ein leeres Weinglas und prosten sich augenzwinkernd damit zu. Dann umarmen sie einander und enteilen flugs. Und so tun wir es ihnen lachend gleich.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Peter

    TRAUMHAFT erzählt, danke. VG Peter

Schreibe einen Kommentar