Es ist Samstag. Das Wetter hat seine Pläne für den heutigen Tag noch nicht richtig geoutet. Gitti und ich hoffen jedoch auf ein wenig Sonne. Wir wollen Freunde treffen, gemeinsam ins Kino gehen und den Tag anschließend in der Stadt ausklingen lassen.
Was ziehe ich dazu an? Zwiebeltechnik, um gegen jedes Wetter gewappnet zu sein? Mutig werfe ich einen Blick in den Kleiderschrank – und schon macht sich eine große Ratlosigkeit in mir breit. Schlimmer noch: Ich bin augenblicklich davon überzeugt, dass ich überhaupt gar nichts habe, was ich heute anziehen könnte!
Gestern noch hatte ich das Problem, eine der von Gittis Hand liebevoll und frisch gebügelten Blusen so in den Schrank zu hängen, dass sie nicht sofort wieder verkrumpfelt. Das bedeutet, dass sich in diesem Schrank durchaus viele Kleidungsstücke befinden. Vermutlich sogar zu viele! Mein Gefühl interessiert das aber nicht. Die Überzeugung, nichts finden zu können, hält sich hartnäckig. Gitti verabschiedet sich gen Wohnzimmer. Sie möchte heute mit der Lektüre der Zeitung in den Tag starten. Ich stehe immer noch ratlos vor dem geöffneten Kleiderschrank.
Und dann passiert es endlich!
„Alles muss raus!“, rufe ich, nehme Haltung an und lege los. Bügel für Bügel prüfe ich, wie lange ich das auf ihm hängende Kleidungsstück schon nicht mehr angezogen habe. Jede Bluse muss durch die Kontrolle. Gibt es abgestoßene Stellen? Werden Schnitt, Farbe oder Muster je wieder modern? Hat das Ding beim letzten Trageversuch gespannt? Wachse ich da je wieder rein? Diese Fragen stelle ich mir zwar regelmäßig, aber heute lasse ich den Antworten darauf zügig Taten folgen. Ich stopfe nicht einfach kopfschüttelnd zurück, was ich heute und auch demnächst nicht tragen werde, sondern raffe mich dazu auf, auszumisten. Diesem Impuls muss ich folgen, sonst passiert wieder nichts. Jetzt sofort!
Das Problem besteht darin, dass jedes Teil auch eine Geschichte hat. Ich verbinde mit den Dingen, die mich umgeben Situationen, Gefühle und Lebensphasen. Kleidung ist da leider besonders geschichtsträchtig. Wenn Du etwas erlebt hast, was Dir wichtig war oder noch ist, dann weißt Du manchmal auch noch, welche Kleidung Du in dieser Situation getragen hast. Vielleicht steht ein bestimmter Pullover auch für ein bestimmtes Lebensgefühl in einer speziellen Lebensphase. Es gibt Menschen, die eine Glücks-Hose haben. Immer, wenn sie diese Hose trugen, hatten sie Glück. Ja, und weil mein Schrank auf seine spezielle Weise gefüllt ist, geht der Akt des Aussuchens der Klamotten, die heute meinen Körper umfangen dürfen, mit einem kleinen Erinnerungs-Trigger einher. Das ist, als ob ich jeden Morgen kurz in ein altes Fotoalbum schauen würde. Es regt mich zum Lächeln an, und das ist definitiv gesund. Sehr gesund!
Wenn ich mich heute ausschließlich um die Stücke kümmere, die auf Bügeln hängen, dann habe ich eine Chance, nicht sofort aufzugeben. Die Regalbretter können bis zum nächsten Anfall warten. Fokussiere Dich!
Am Schluss der kleinen Aktion gibt es einen Haufen leerer Bügel. Sehr befriedigend! Außerdem gibt es einen Stapel sorgfältig zusammengelegter Blusen, die ich gleich nachher der Kleiderspende überantworten werde. Sie sind in einwandfreiem Zustand und eignen sich dazu, bei anderen Menschen zu kleinen positiven Erinnerungsstücken zu werden. Am Boden liegt ein Müllsack, gefüllt mit dem, was man früher einem Lumpensammler mitgegeben hätte. Im Schrank hängen immer noch ein paar Sachen, die ich vermutlich nie wieder tragen werde, aber das ist nicht schlimm. Sie werden schließlich immer noch ihre Aufgabe erfüllen, mich von Zeit zu Zeit an schöne Erlebnisse zu erinnern.
Mit einem tiefen Gefühl der Zufriedenheit schließe ich die Schranktüren.
Dann fällt mir ein, dass ich immer noch im Schlafshirt dastehe. Und jetzt? Was ziehe ich bloß an?
Draußen schiebt sich gerade ein kleines Stück blauer Himmel zwischen zwei Wolken hindurch. Ich schnappe mir flugs eine Hose, eine Bluse und eine Strickjacke. Jetzt kann der Tag beginnen!
Liebe Miri das ist so schön und perfekt von dir beschrieben, dass man sich sehr gut in die vielen eigenen Situationen versetzen kann, in denen man vor dem Kleiderschrank steht und nichts zum anziehen hat!
Und beim ausmisten packen einen die Emotionen, die die Kleidungsstücke hervorrufen, und den Abschied von ihnen verhindern wollen.
Es sind wohl unsere Emotionen, die für die vielen Anhaftungen im Leben sorgen.
Dennoch, du hast recht alles muss raus, damit Platz für neues entsteht!