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Ausflug ins Absurde

Gitti daddelt vor sich hin. Neben ihr vertiefe ich mich gerade in ein kleines Kreuzworträtsel. Alles ist still, was sehr schön zu dieser Jahreszeit passt – bis Gitti sagt: „Herr Liefers, so berichtet es das Netz, weilt gerade auf Mallorca.“

Ich schrecke hoch und gucke sie fragend an. Gitti tut kund: „Aber das interessiert mich doch gar nicht!“ „Wie beruhigend“, entgegne ich. Schnell verständigen wir uns darauf, dass Gitti sich erst dann wieder für seinen angeblichen Aufenthaltsort interessieren wird, wenn der Herr um Viertel nach Acht nicht pünktlich zum Tatort erscheint. Unterstreichend tippt Gitti mit dem Nagel ihres Zeigefingers gut hörbar auf die nächstbeste feste Oberfläche. Dann legt sie nach: „Und wehe, er vergisst, Frau Großmann, Frau Urspruch, Frau Kempter, Herrn Prahl und Herrn Clausnitzer mitzubringen. Dann kann er aber was erleben!“. Aha, dann wäre das ja auch geklärt.

Ich staune nicht schlecht, dass Gitti sämtliche Namen der anderen Hauptdarsteller so flüssig benennt. Ob sie das wohl noch schnell nachgeschlagen hat? Natürlich hüllt Gitti sich darüber in Schweigen. Schließlich geht das niemanden etwas an. Und das ist auch gut so!

Dankbar dafür, dass uns kaum jemand kennt, finden Gitti und ich übrigens, dass die vielen Menschen, die uns immer wieder mit ihrer Kunst erfreuen, auch ein Recht auf ein privates Leben abseits der Öffentlichkeit haben. Aus uns beiden werden keine Groupies mehr. Unser Dank für die Freude, die man uns bereitet hat, bleibt meist genauso unentdeckt, wie wir selbst. Im Theater können wir die Freude zum Beispiel als direktes Feedback mit lautem Klatschen zurückgeben. Wir empfehlen weiter, was uns gefallen hat. Natürlich nehmen Gitti und ich Stellung, durchaus auch recht kritisch, aber wir bevorzugen dafür den privaten Raum. Ansonsten halten wir uns zurück. Vor allem hinterlassen wir keine öffentlich zugängliche Kritik, die der Künstlerin oder dem Künstler schaden könnte.

Bewertungen aller Art begleiten unseren Alltag sowieso schon in außerordentlich hohem Maß. Manches ist durchaus hilfreich, aber auch da gilt: Kritik und Respekt schließen sich nicht aus! Zum Glück erfährt man beim Lesen oder Hören von Kritik überraschend viel über den Kritiker selbst.

Gitti wendet sich wieder ihrer Daddelei zu, während ich noch eine Runde meinen Gedanken nachhänge.

Vor ein paar Tagen bin ich im Netz auf eine Kachel gestoßen, auf der stand: 8:2(2+2) =? Weiß auf dunkelgrünem Grund. Wie Kreide auf einer traditionellen Schultafel. Ich kann nicht anders, so Zeug muss ich kurz ausrechnen. Auf der Kachel gab es auch noch ein kleines Smiley und dazu noch eine kleine Schaltfläche mit einer größeren Nummer drauf, hinter der sich eine erkleckliche Anzahl dazu abgegebener Kommentare verbarg. Ich habe mal da draufgeklickt – und dann las ich staunend, was man mit so einer kleinen Aufgabe anrichten kann!

Der erste bot die 1 als Lösung an und beschwerte sich sogleich über die viel zu einfache Aufgabe, mit der man ja nur ihn und seine Intelligenz beleidigen will. Er fand dafür sehr viele und sehr beleidigende Worte. Seine Lösung ist falsch, mit dieser Lösung ist er allerdings auch nicht alleine. Weitere Leute boten auch die 1 an, die knappe Mehrheit davon verzichtete dabei jedoch auf Beleidigungen aller Art.

Ein anderer schrieb: „Die Lösung ist 12.“ Auch schön, leider aber auch falsch. Bei dem hätte mich interessiert, wie er auf sein Ergebnis kam. Vielleicht hat er mit seinem Kommentar ja auch bewusst einen kleinen Scherz platziert, um ein bisschen Verwirrung zu stiften. Gut gemacht!

Mehrere Leute setzten hilfreiche Hinweise, indem sie an die gute alte Regel „Punktrechnung vor Strichrechnung“ erinnerten. Ein paar davon errechneten trotzdem die 1 als Lösung. Schade!

Dann beschwerte sich jemand darüber, dass es unverschämt sei, zwischen der ersten 2 und der nachfolgenden geöffneten Klammer einfach das Rechenzeichen wegzulassen. Als Antwort wies ein anderer darauf hin, dass es da eine allgemeine Vereinbarung gibt, die in solch einem Fall das Weglassen des Malzeichens erlaubt. Über den sind dann gleich ganz viele regelrecht hergefallen. Man warf ihm Arroganz vor und belegte ihn mit Schimpfworten aller Art. Muss er jetzt auch noch froh sein, wenn man ihm morgen nach Einbruch der Dunkelheit nicht auf der Straße auflauert? Ich bin entsetzt!

Unbeirrt hat sich dann doch noch jemand die Mühe gemacht, ganz kleinteilig herzuleiten, wie man auf die Lösung 16 kommt. Weg und Lösung stimmen, aber auch dieser freundliche Mensch wurde sogleich übel beschimpft.

Ja, ich weiß! Ganz viele Menschen haben schon lange nichts mehr mit solchen Aufgaben zu tun. Sie brauchen die komischen Gesetze, die man ihnen im Matheunterricht mal vorgestellt hat, längst nicht mehr. Für sie hat das keinerlei praktischen Nutzen. Zur Ausübung meines Berufes brauche ich mein mathematisches Handwerkszeug durchaus. Ich kann dafür ganz viele andere Sachen nicht!

Aber was ist bloß mit uns Menschen los? Wir fallen wegen harmloser Rechenaufgaben übereinander her, als ginge es um Leben und Tod! Ich finde das absurd!! Total unsinnig!!! Wenn Ihr einander schon nicht helfen wollt, dann lasst Euch doch wenigstens gegenseitig in Ruhe! Ich verstehe nicht, was einen derart provozieren kann, dass regelrechte Hasstiraden das Ergebnis sind … und dann auch noch schön anonym und trotzdem öffentlich. Das gehört definitiv zu den Dingen, die ich nicht kann: ich kann nicht verstehen, wieso so etwas passiert!

Auf der Straße fallen die Leute auch schon immer hemmungsloser übereinander her. Da bekommen Leute eine Tracht Prügel für: Nichts! Was soll das? Mir wird es kühl ums Herz, ich beginne, zu frösteln und ziehe die Decke fester um mich, in die ich mich gehüllt habe. Meine Chance sehe ich darin, mich einfach anders zu verhalten. Ganz konsequent! Vielleicht gefällt das ja jemandem und findet Nachahmer.

Ermutigt wende mich dem kleinen Kreuzworträtsel wieder zu. Mit dem ersten Wort in der linken oberen Ecke habe ich noch immer Schwierigkeiten. Ich vertiefe mich. Gefragt ist: „Gebären der Scheine.“ Das Ding hat 5 Buchstaben. In meinem Hirn herrscht gähnende Leere. Ich löse die anderen Rätselfragen. Jetzt fehlen nur noch der erste und der dritte Buchstabe. Der zweite ist ein A, am Ende stehen E und N einträchtig nebeneinander: _A_EN …

Wenn man schon in alle möglichen Richtungen gedacht hat, hilft manchmal auch dies: Anstarren, bis die Lösung zurückstarrt.

Was nach einer Weile endlich zurückstarrt, heißt „SAUEN“, passt aber nicht zur Frage. Oder doch? Was, wenn die Frage falsch ist? Da fehlt doch nur ein kleines W! Das ist es!! Die richtige Frage ist: „Gebären der Schweine:“ Geht doch! Auch ohne absurden Shitstorm!!

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Tom

    Ich halte diesen leider überhand nehmenden Trend zur Beschimpfung von anderen als das Produkt von zwei Faktoren unserer Gesellschaft:

    Einmal einen Auswuchs der allgemeinen Verunsicherung, die zum Teil offenbar bewusst gefördert wird, weil man verunsicherte Menschen leichter Führen kann – wenn man nicht Führen kann.

    Dann noch ein Auswuchs eines ebenfalls zunehmenden „Schwarz-Weiß Denkens“. Entweder stimmt man mit einer Meinung überein, dann ist der Äußerer derselben derselben toll, intelligent und so weiter. Wenn einem der Haarschnitt oder eine Äußerung nicht gefällt, dann ist alles an der Person verwerflich, schlecht und verdient – nein, verlangt absolut und dringend – nach einer sofortigen Beschimpfung mit den übelsten Ausdrücken, die auch Vorfahren und Nachkommen der Person bis ins x-te Glied verlangen. (Offensichtlich sind sich die Verunglimpfer nicht bewusst, dass man nur hinreichend weit in die Vorfahren eines beliebigen Menschen zurück gehen muss, bis wir eigentlich alle miteinander verwandt sind?)

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