Zweimal im Jahr treffe ich mich mit ein paar ehemaligen Kolleginnen. Früher haben wir gerne einen Teil unserer Arbeitspausen miteinander verbracht. Inzwischen haben sich die beruflichen Wege getrennt. Über die Jahre hält jedoch stetig das zarte Band, welches uns verbindet. Ich finde das wirklich sehr schön!
Am Ende unseres letzten Treffens passiert wieder, was uns eigentlich jedes Mal passiert: Alle stehen gemeinsam auf irgendeinem Parkplatz herum. Wir schließen final unsere Jacken oder Mäntel, je nach Jahreszeit rückt die eine oder andere von uns noch ihren Schal zurecht. Aufmunternd sehen wir einander an. Dann ertasten wir fast zeitgleich zuerst den Inhalt unserer Jacken-, Mantel- oder Handtaschen, dann den unserer vorderen Hosentaschen und zum Schluss den unserer Gesäßtaschen. Diese kleine Bauch-Beine-Po-Choreographie stellt sicher, dass jede im Besitz ihrer Papiere, ihrer Schlüssel und ihres Telefons ist – oder was auch immer sich dort sonst noch auf diese Weise kontrollieren lässt. Aus der Ferne betrachtet muss das echt lustig aussehen.
Unser Verabschiedungsritual begibt sich sodann auf die Zielgerade. Alle umarmen einander. Wir versichern uns gegenseitig, wie schön wir das Treffen fanden und wünschen uns eine gute Zeit. Sind alle damit durch, gehen wir winkend und voller Vorfreude auf das nächste Treffen wieder auseinander.
Zu Hause geht es genauso zu. Die Bauch-Beine-Po-Choreographie hat sich bei mir besonders vor Verlassen des Hauses bewährt. Ich vollführe sie regelmäßig bereits an der Garderobe. Sicherheitshalber nehme ich meinen Schlüssel am Ende stets zusätzlich noch in die Hand und gucke ihn kurz an, bevor ich die schwere Eingangstür hinter mir ins Schloss fallen lasse. Ich komme mir dabei echt albern vor, aber es gilt: Gebranntes Kind scheut das Feuer!
Am Abend gönnen Gitti und ich uns ein leckeres Essen in einem Restaurant, das wir bislang noch nicht kannten. Dabei achte ich etwas mehr auf die anderen Gäste, als ich es sonst zu tun pflege. Welche Choreographien werden sie heute und hier zur Aufführung bringen?
Meine Aufmerksamkeit wird reich belohnt.
Leicht lässt sich erkennen, welcher Weg wohl zur Toilette hin oder von dort zurückführt. Körperhaltung, Gesichtsausdruck und Tempo verraten überraschend viel, stelle ich fest. Diskret übersehe ich dabei, wie viele Leute auf dem Rückweg nochmal prüfen, ob der Reißverschluss ihrer Hose auch wirklich wieder geschlossen ist. Wer weiß, was ich selbst auf meinen Wegen zu bieten habe!
Interessant zu sehen ist auch, auf welche Weise die Gäste mehr oder weniger erfolgreich versuchen, die Aufmerksamkeit eines Kellners oder einer Kellnerin auf sich zu lenken. Vielleicht kann ich daraus ja etwas lernen! Die Gesichter dieser Menschen verändern mit jedem gescheiterten Versuch ihren Ausdruck, und manchmal wechselt sogar deren Farbe. Hände zeigen auf, als ob wir in der Schule wären. Der Herr da hinten verkneift sich dabei noch nicht einmal ein Schnipsen. Schultern werden gestrafft, Oberkörper richten sich auf, und bei Misserfolg sackt mancher Körper für einen kleinen Moment enttäuscht in sich zusammen. Verbal unterstützend wirken: „Hallo“, „Entschuldigung“, „Kann ich …?“ und vieles mehr. Auch hier mag ich lieber gar nicht erst darüber nachdenken, was für ein Bild ich selbst bei solch einem Vorhaben abgebe.
Ich berichte Gitti davon, und über ihr Gesicht huscht daraufhin ein wissendes Grinsen.
Am Nebentisch fragt eine Frau ihren Partner, ob er auch seine Ohren eingesteckt hat. Vermutlich sind damit Hörhilfen gemeint, deren Verwendung im Laufe der nächsten Stunden einen entscheidenden Einfluss auf die Kommunikation des Paares haben dürfte. Ihre Frage hat die Frau mit hübschen Gesten untermalt und vorauseilend mit einem leicht vorwurfsvollen Unterton intoniert. Auf diese Weise hat sie dafür gesorgt, dass die Frage auch ohne Hörhilfen gut zu verstehen ist.
Ob sie selbst wohl eine Sehhilfe eingesteckt hat? Falls ja, kann sie später dem mit der Hörhilfe die Speisekarte vorlesen. Das erweist sich bestimmt als praktisch, zumindest, wenn beide mit unterschiedlichen Einschränkungen leben müssen.
Solche, aber auch eine Reihe anderer Einschränkungen und Erlebnisse veranlassen uns übrigens alle, im Laufe der Zeit ganz unterschiedliche Choreographien einzustudieren und auf der Bühne unseres Lebens fortan darzubieten. Nur Mut! Verständnis und Mitgefühl werden Deinen weiteren Weg sicher säumen. Ein gelungener Auftritt weckt zudem ungeahnte Sympathien, und da darf man sich auch mal von seiner skurrilen Seite zeigen!
Gitti hat es definitiv nicht verdient, dass ich hier weiter die Leute anstarre. Zugegeben, es fällt mir nicht leicht, meine restliche Neugierde ungestillt zu lassen. Um Gittis willen, aber auch, um selbst nicht weiter unangenehm aufzufallen, reiße ich mich vom Geschehen rund um uns herum los. Gemeinsam vertiefen Gitti und ich uns in die Speisekarte und im Anschluss in unser eigenes, anregendes Tischgespräch.
Nach dem Essen geben wir gemeinsam eine kleine Bauch-Beine-Po-Choreographie zum Besten, dann kehren wir satt und bester Laune in unser trautes Heim zurück.