Du betrachtest gerade Das Ziel im Blick

Das Ziel im Blick

Von klein auf lernen wir, dass es wichtig ist, Ziele zu formulieren, sie möglichst konsequent zu verfolgen und sie zu erreichen. Zielorientiert sollen wir also sein, und zwar immer und überall.

Och nee, ich will nicht immer einem Ziel oder etwas anderem nachjagen! Wo bleibt denn da das schöne Gefühl, sich einmal ganz entspannt zurückzulehnen, Dinge auf sich zukommen zu lassen und darauf zu vertrauen, dass man Lösungen finden wird, falls wider Erwarten Probleme auftreten? Genau, dieses Gefühl bleibt dann nämlich aus – dabei ist es so wichtig!

Das Jagen erfordert Kraft und trägt zugleich Stress herein. Der Stress beeinträchtigt die Entspannung. Die Entspannung hilft jedoch dabei, neue Kraft zu sammeln. Außerdem beflügelt sie die Kreativität. Kann ich die Nummer mit dem Jagen aus der Gleichung nehmen und dennoch meine Ziele erreichen?

Tief in mir wurzelt die Überzeugung, dass es funktioniert. Also versuche ich mich in der Kunst, das Erreichen von Zielen ganz entspannt zu gestalten. Wenn mein Ziel sehr hoch gesteckt ist, gelingt es vielleicht, Etappenziele einzubauen. Ich stelle mir einen langen Wanderweg vor, auf dem ab und zu mal eine einladende Bank steht. Auf der Bank kann ich mich für eine Weile niederlassen und sowohl die Aussicht als auch das schöne Gefühl genießen, schon an dieser Bank angekommen zu sein. Vielleicht beschließe ich auch spontan, direkt bis zur nächsten Bank weiterzulaufen. Bei der Ankunft an der nächsten Bank kann ich neu entscheiden.

Wichtig ist dabei, den erreichten Teilerfolg nicht gleich zu schmälern, nur weil das große Ziel eventuell immer noch in weiter Ferne liegt. Ich muss an der Stelle, an der ich mich gerade befinde, sowieso vorbei. Es gibt keine Abkürzung. Also kann ich auch feiern, jetzt hier zu sein. Das Feiern motiviert mich, anschließend den nächsten Schritt zu gehen – bei der nächsten Bank wartet schließlich schon die nächste Feier auf mich.

Ein Besuch bei Gittis Cousine und ihrer Familie steht an. Sie haben sich vor geraumer Zeit das große Ziel gesetzt, ein neues Haus zu bauen. Jetzt wollen sie uns zeigen, wie es inzwischen bei ihnen aussieht.

Solch ein Hausbau wird schnell zur Abenteuer-Reise. Überall lauern neue Überraschungen und Schwierigkeiten, die zu bewältigen sind. Natürlich kennen wir schon einige der Episoden, die sie auf dieser Reise erlebt haben. Unsere lieben Gastgeber erzählen uns mehr davon, und wir bemerken ihren unerschütterlichen Zusammenhalt. Ohne den wären sie sicher gescheitert.

Ich stelle mir den großen Druck vor, der sich über eine lange Zeitstrecke aufgebaut hat und mit jeder neuen Herausforderung angewachsen ist. Gitti und ich sind beeindruckt, wie beharrlich sie alles vorangetrieben haben, um ihr Ziel Stück für Stück zu erreichen.

„Schön ist es geworden!“, rufen wir immer wieder aus.

Wir werden liebevoll umsorgt und genießen unseren Besuch in vollen Zügen. Draußen nieselt es, seit Tagen liegt dichter Nebel über dem Land. Drinnen machen wir es uns gemütlich. Am Abend vor unserer Abreise spielen wir zusammen mit Gittis Cousine und deren Tochter Gesellschaftsspiele.

Beim Triomino, also der Variante des Dominospiels, bei dem dreieckige Spielsteine verwendet werden, hat Gittis Cousine gerade eine ausgewachsene Pechsträhne. Das Spiel gewinnt, wer zuerst alle seine Spielsteine anlegen kann. Es geht reihum. Man darf immer nur einen seiner Steine anlegen, und wenn keiner dieser Steine passt, muss man einen weiteren Stein aufnehmen. Bald leeren sich unsere Stein-Vorräte, während Gittis Cousine mit jeder Runde Stein-reicher wird. Mit jedem zusätzlichen Stein wächst ihr Unmut. Es ist wie verhext. Irgendwann hat sie es satt und verschränkt die Arme vor der Brust. Aber ein Aufgeben kommt für sie nicht ernsthaft in Frage.

Gittis Cousine fängt sich wieder. Sie behält ihr Spielziel im Blick und sucht nach Alternativen. Etwas abseits der gemeinsam gelegten Figur und etwas abseits der Regeln platziert sie jetzt ein Gebilde aus vier Spielsteinen. „Seht her, ohne Eure blöde Figur wäre ich schon längst fertig! An das hier könnte ich den Rest meiner Steine nämlich auch noch anlegen!“

Um sie zu trösten, würdigen wir gemeinsam ihr Problem. Gitti fragt: „Also baust Du jetzt hier weiter?“

Nein, so weit will die Cousine dann doch nicht gehen. Augenzwinkernd und zugleich kopfschüttelnd sammelt sie ihre Steine wieder ein. Ihre Tochter öffnet die Terrassentür, um etwas Frischluft hereinzulassen. Dann füllt sie unsere Gläser auf. Wir stoßen miteinander auf das Glück im Spiel und zur Sicherheit auch noch einmal auf das Glück im Allgemeinen an. So geht es gut erfrischt, einträchtig und fröhlich in die nächste Spielrunde.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Tom

    Hallo liebe Miri,

    danke für diese Story, die wir uns alle zu Herzen nehmen sollten. Ähnlich habe ich es auch auf meiner etwas chaotischen Bahnreise gemacht: Mitter zufrieden auf das, was man erreicht hat, beispielsweise im überfüllten zug noch einen Sitzplatz ergattert zu haben („Genießen Sie das Leben in vollen Zügen“ – das wäre mal ein Werbeslogan) . Zufrieden, dass es in der richtigen Richtung weiter geht (auch wenn wir von Stuttgart aus erstmal wieder zurück gefahren sind) und immer bereit, eine neue chance zu prüfen und gegebenenfalls die eigene Planung anzupassen (wie der Zugwechsel in FFM Flughafen statt in Mannheim).

    Letztendlich konnte ich die Versptung auf etwa 30 Minuten reduzieren, nach der ersten Umplanung hätten es fast 2 stunden werden sollen. Nimmt man solche kleinen Rückschläge, wie ich sie hatte, als Chance, freut man sich über die gewonnene Zeit, statt sich über die Vwerspätung zu ärgern!

Schreibe einen Kommentar