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Dem Ismus entkommen

Ih, ein Ismus! Schnell weg!!

Der Ismus ist ja ein Suffix. Man braucht ihn zur Wortbildung. Hänge ich „-ismus“ an ein schon bekanntes Wort an, entsteht ein neues Wort. Natürlich nur, wenn das vor mir noch niemand gemacht hat. Nebenbei be- und gemerkt: Ein Suffix wird immer hinten angehängt, ein Präfix immer vorne. Allgemein heißt ein solches Anhängsel Affix. Im richtigen Leben brauche ich das Zeug oft, aber meistens lasse ich mich nicht darüber aus, was ich da genau verwende, wie das heißt und wozu das gut sein soll.

Der Ismus an sich ist völlig harmlos. Er weist auf die Art eines Vorgehens hin, auf eine Tendenz, eine Richtung oder auch mal auf eine Geisteshaltung.

Ein Mechanismus zum Beispiel kann super sein und mir Arbeit abnehmen. Vielleicht steckt er in einem der mechanischen Geräte, die tapfer mein Leben begleiten und auf die immer selbe Weise ihr Werk verrichten. Wie schön! Auch in meinem Inneren läuft oft irgendein Mechanismus ab. Meistens sorgen seine Kumpels und er dafür, dass ich gedankenlos auf vertrauten Pfaden wandeln kann. Das ist echt bequem. Ich muss nicht immer alles in Frage stellen, überdenken und neu bewerten!

Dennoch: Läuft in mir ein Mechanismus ab, so ist das nicht immer toll. Es kommt nämlich darauf an, was er da macht – so ganz alleine.

Ob wohl bei oder mit mir was nicht stimmt? Vermutlich. Aber ich bin gewiss in guter Gesellschaft, also mache ich einfach weiter. Ich lasse mich fallen und überlege kurz, was mir noch so an Ismen einfällt.

Vor hundert Jahren war der Dadaismus ein großes Reizthema. Es ging dabei um die Freiheit in Kunst und Literatur. Heute würde sich vielleicht keiner mehr darüber aufregen, aber damals kam die Bewegung einem Erdbeben gleich. Kein Wunder, hatte sie doch das Zeug, bestehende Normen und Ideale zu zerstören oder zumindest in Frage zu stellen. Manch ein Produkt des Dadaismus lässt einen wirklich ratlos zurück. Das ist nicht schlimm, es muss so sein. Ich glaube, die Kunst hat diese Phase der Befreiung gebraucht und profitiert immer noch von ihr. Ich lasse mich weiter treiben.

Der Idealismus ist mir lieber als der Pessimismus. Irgendwo dazwischen steht vielleicht der Realismus. Welcher jetzt, der aus der Literaturrichtung oder der im praktischen Leben? Aus den Fängen dieser Frage komme ich erst nach einer Weile, nur mit Mühe und vor allem mit Hilfe des Pragmatismus heraus, der sich einen Dreck um die theoretische Vernunft schert. Der Pragmatismus, den ich gerade meine, der ist ganz auf das praktische Handeln ausgerichtet. Mit dessen Hilfe trete ich oft eine Art Flucht nach vorne an. Heute treibt er mich direkt zu Gitti. Ich schlage ihr einen kleinen Ausflug in die Stadt vor. Gitti macht sich sofort startklar. Auf geht’s!

Unterwegs berichte ich ihr von meiner kleinen Reise durch die Welt der Ismen. Gemeinsam überlegen wir, was wir nun damit anstellen.

In der Stadt angekommen, widmen wir uns zunächst dem Einkauf von Käsekuchen. Heute ist nämlich ein Markttag, und auf dem Markt gibt es einen Stand, an dem ein hervorragender Käsekuchen feilgeboten wird. Den lassen wir uns nicht entgehen. Wir bummeln danach noch eine Weile durch die belebte Innenstadt, dann sinken Gitti und ich erschöpft im Straßencafé nieder. Die wärmende Oktobersonne sonnt auf uns herab. Das regt die Produktion von Glückshormonen an, wie schön! Ein Flammkuchen und zwei große Gläser hausgemachter Limonade begleiten unser angeregtes Tischgespräch.

Um uns herum versammeln sich gerade ganz viele Gruppen zu einer Großdemonstration. Naturschützer, Gewerkschaftler, Aktivisten und sonstige Gruppen mit unterschiedlichen politischen Überzeugungen sorgen sich um unsere Zukunft. Sie bringen das hier und heute zahlreich zum Ausdruck. Auf Transparenten, Westen und Umhängen lesen wir ihre Forderungen. Manches entspricht auch unserer Meinung, anderes stufen Gitti und ich als Quatsch ein, einige Forderungen halten wir für übersteigert. Schwupps, da fallen uns all die Ismen wieder ein, über die wir vorhin noch so angeregt diskutierten.

Leider gibt es eine Reihe von Ismen, die mit der Zeit echt zum Problem werden. Zuerst merkt man vielleicht nur, dass etwas sehr übersteigert wird. Das muss nicht gleich der Ausdruck einer extremen Geisteshaltung sein, die extreme Schlüsse nach sich zieht und zu extremen Handlungen führt. Trotzdem lohnt es sich, genau hinzusehen und auch einmal Stellung zu beziehen, wenn man bemerkt, dass gerade ein Problem entsteht. Wer ein Problem sieht und rein gar nichts unternimmt, der ist bald Teil des Problems. Ich muss sicher nicht überall und sofort meine Klappe aufreißen, aber ich kann versuchen, meine kleine Welt ein bisschen besser zu machen. Das ist ein Anfang. Solch einen Anfang machen die Leute hier auch.

Zu den Ismen, die Probleme nach sich ziehen, gehört zum Beispiel der Dogmatismus. Er steht vor allem für Starrheit und Unveränderlichkeit. Dogmatismus erlaubt keinen weiteren Erkenntnisgewinn. Ein Dogma erhebt schließlich den Anspruch auf absolute Gültigkeit. Mich erschreckt Dogmatismus. Mich erschreckt aber auch schon, wenn mir jemand zu oft erklärt, was er immer macht und was er nie macht. Ich habe nichts gegen die Pflege von Traditionen, aber durchaus etwas dagegen, wenn man es übertreibt und dabei am Ende Zwänge Hand in Hand mit Dogmen herauspurzeln. Natürlich gibt es hier auch Demonstranten, deren Haltung uns dogmatisch vorkommt. Schön ist jedoch, dass die Stimmung insgesamt friedlich ist und bleibt. So geht Demokratie!

Am Nachbartisch haben drei mittelalte Damen gerade ihr gemeinsames, spätes Frühstück beendet. Sie bezahlen, dann wühlen alle drei in ihren Rucksäcken. Zum Vorschein kommen Westen und Fahnen unterschiedlicher Gruppen. Offensichtlich wollen alle drei an der Demonstration teilnehmen, dabei jedoch ordnen sie sich unterschiedlichen Gruppen zu. Zwei der Damen streifen ihre Westen über. Die eine verabschiedet sich in Richtung ihrer Naturschutzgruppe, die beiden anderen helfen sich noch gegenseitig beim Befestigen mitgebrachter Fahnen. Diese Fahnen wollen sie auf dem Rücken tragen, über ihre Rucksäcke gestülpt, sowohl am jeweiligen Rucksack als auch am eigenen Hals befestigt. Die Dame, die einer der Gewerkschaften nahesteht, hilft der Dame, die einer Gruppe Aktivisten zuzuordnen ist. Sie meistert die Herausforderung, das Ding regelrecht festzuzurren. Dann geht es gemeinsam los.

Gitti stutzt, dann ruft sie ihnen spontan nach, wird aber nicht erhört. Und so läuft die Aktivistin nun mit ihrer auf Links gedrehten Fahne davon. Wer Spiegelschrift lesen kann, ist im Vorteil und versteht, was sie uns mitteilen möchte.

Zum Schluss fällt mir noch ein anderer Ismus ein: der Präsentismus. Der hat nichts mit Präsenten, also leider nichts mit Geschenken zu tun. Dieser Ismus kommt aus der Arbeitswelt und meint den empfundenen Zwang zur Anwesenheit. Früher kannte ich Leute, die sich selbst schwer krank noch zur Arbeit schleppten – und dort alle anderen nervten, mit irgendetwas ansteckten und ansonsten nur unproduktiven Unsinn verzapften. In Zeiten von Homeoffice und mobilem Arbeiten taucht das Phänomen leider wieder verstärkt auf, wenn auch in leicht abgewandelter Form. Da loggen sich doch eigentlich ganz normale Menschen spät in der Nacht im Geschäft ein, um dort nach dem Rechten zu sehen! Sie machen das aus Angst. Sie fürchten, nicht präsent genug zu sein. Als ob der Laden ohne sie gar nicht mehr liefe! Welch ein Unsinn! Man muss es auch mal gut sein lassen. Präsentismus ist ungesund!!

Ich entziehe mich solchem Präsentismus stets sehr bewusst und werde übermorgen meine Arbeit in gut erholtem Zustand wieder aufnehmen. So trage ich Sorge dafür, ein größeres Pensum zu schaffen und meine Arbeit in guter Qualität abliefern zu können. Niemand hat etwas davon, wenn ich andauernd tätig bin – oder nur anwesend?

Unsere Freizeit gehört nur Gitti und mir allein. Was immer wir da tun oder lassen, wen wir sehen oder hören: Das ist kostbare Qualitätszeit!

Dafür lohnt es sich, jedem dahergelaufenen Ismus zu entkommen, natürlich mit Ausnahme des Optimismus‘. Der ist bei uns immer willkommen! Und jetzt muss ich los, Qualitätszeit genießen!!

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