You are currently viewing Der Augenblick

Der Augenblick

Gitti und ich besuchen eine Ausstellung. Es gibt interessante Malereien zu sehen. Neben der dargebotenen Kunst genießen wir auch die lichtdurchfluteten Räumlichkeiten und die entspannte Atmosphäre, die gerade darin herrscht. Heute sind vorwiegend ruhige, rücksichtsvolle Menschen hier. Dankbar dafür widmen Gitti und ich uns jetzt ganz dem Staunen, dem Sehen und dem Nachspüren.

Eine Art Gang umgibt die eigentlichen Ausstellungsräume. Die Außenseite ist voll verglast. Transparente Rollos schützen vor der prallen Sonne, laden aber zugleich dazu ein, den Blick auch einmal nach draußen schweifen zu lassen. Ich entdecke eine Art umlaufenden Balkon, abgeschlossen von einem Steinmäuerchen, und dahinter erstreckt sich ein kleiner Park mit großen Bäumen. Zum Innenbereich hin gibt es diverse Durchbrüche, die die Ausstellung mit indirektem Licht erhellen und uns Menschen für eine kurze Rast aus dem Raum entlassen. An der Wand stehen große weiße Ledersofas. Dankbar lässt Gitti sich auf eins der Sofas fallen und stößt einen wohligen Seufzer aus. Ich nehme neben ihr Platz. Gemeinsam sitzen wir nun da und gucken nach draußen. Über unsere Eindrücke, die wir von der Ausstellung an sich gewonnen haben, werden wir uns später austauschen. Jetzt gerade ist nur das Innehalten unser gemeinsames wortloses Thema.

Ich betrachte die Wipfel der draußen stehenden Bäume. Sie wiegen sich sanft im lauen Lüftchen, das dort weht. Ich genieße die Harmonie, die von dieser Bewegung ausgeht. Fast unmerklich wiege auch ich mich ein wenig hin und her. Zufrieden und still genieße ich den Augenblick.

Dann fällt mein Blick auf das Mäuerchen. Plötzlich nehme ich wahr, dass in dem Mäuerchen scheinbar Leute sitzen. Ein weißes Sofa ist dort eingelassen. Ich erkenne zuerst das Rot von Gittis Hosenbeinen. Das hellblaue Beinpaar links daneben gehört mir. Ein bisschen kopflos schweben wir gespiegelt in dem Mäuerchen. Das fast durchsichtige Fensterrollo taucht die Spiegelung in eine unwirklich anmutende Transparenz. Zur Kontrolle schlage ich kurz mein linkes Bein über mein rechtes. Das Spiegelbild tut es mir gleich, nur eben spiegelbildlich. Dann stupse ich Gitti an. „Guck mal“, sage ich leise und weise mit ausgestrecktem Finger auf unser Konterfei. Gitti braucht einen Moment, bis sie weiß, was ich meine. Sie kichert. Zu meiner großen Freude probiert auch Gitti spontan aus, ob das transparente Spiegelbild brav ihren Bewegungen folgt. Ihre geflüsterte Antwort lautet: „Echt scharf!“

Im Anschluss sitzen wir noch ein Viertelstündchen lang einfach nur so da.

Bevor wir gehen, mache ich noch ein kleines Erinnerungsfoto. Welch ein schöner Augenblick! Später werde ich mich an diesen Moment tatsächlich lebhafter erinnern als an die Bilder, die Gegenstand der Ausstellung waren.

Es vergehen ein paar Wochen.

Es ist Montag, der Morgen graut – oder graut es dem Morgen? Egal. Ich bin noch müde, dennoch schon eine ganze Weile aktiv und arbeite konzentriert vor mich hin. Mein Freund Tom übermittelt eine kleine Videobotschaft. Die acht Sekunden lange Sequenz zeigt den Blick aus einem Fenster. Gegenüber ist eine Hauswand, ebenfalls mit Fenstern ausgestattet, davor ein schmales Beet mit Gräsern. Es schließt sich ein gepflasterter Weg an. Ich sehe einen Tisch, umringt von acht Stühlen. Tisch und Stühle scheinen knapp über dem gepflasterten Weg zu schweben, man sieht sie doch eher schemenhaft. Die fächerartigen Blätter der Gräser aus dem Beet schimmern durch Tisch und Stühle hindurch und bewegen sich im Wind. Auch sie sind von einer unwirklichen Durchsichtigkeit. Ich entdecke etwas, das wie ein kleiner Wasserlauf aussieht, der zwischen der gegenüberliegenden Hauswand und dem Weg vor sich hinplätschert. Oder handelt es sich um eine kleine Pfütze? Regnet es?

Mein Interesse ist geweckt. Ich drehe den Ton laut und spiele die Sequenz noch einmal ab. Toms Stimme wispert: „Moment. Ich sag’s Dir gleich. Augenblick noch.“

Etwas ratlos gucke ich mir das Video ein weiteres Mal an.

Drei Minuten später sendet Tom einen kurzen Text. Da steht: „Besprechung der Gräser.“ Ich sende ein „Hihi“ zurück.

Nach zwanzig Minuten kommt eine weitere Erklärung. Tom lässt mich wissen, dass sich die Gräser im Fenster spiegeln. Die Sequenz zeigt den Blick, den er von seinem Schreibtisch aus hinüber zum anderen Gebäudeflügel hat.

Noch einmal sehe ich mir die Szene an. Ich entdecke genauer, was alles zur Spiegelung gehört. Stück für Stück erschließt sich mir, wo welche Bildelemente in natura angeordnet sind. Ich staune nicht schlecht. In der linken Ecke des im gegenüberliegenden Fenster gespiegelten Fensters entdecke ich zum Schluss noch etwas, was ich mittlerweile für Toms Spiegelbild halte. Kann ich ihm hier tatsächlich beim Aufnehmen dieser Szene zugucken?

Wie schön! Genaues Hinsehen birgt doch immer wieder tolle Überraschungen. Ich lächle vor mich hin und freue mich sehr darüber, dass Tom seinen Blick immer wieder bewusst geschärft hat, um im Alltäglichen die kleinen Besonderheiten zu entdecken und sich darüber zu freuen. Danke, dass ich mitgucken durfte!

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Tom

    Liebe Miri,

    vielen Dank insbesondere deine Schmunzelstories haben mit dazu beigetragen, meinen Blick für die kleinen Besonderheiten im Alltag zu schärfen. Solche kleinen Ausflüge und das Schmunzeln sind für uns alle wichtig, um durch den Tag zu kommen.

    Euch viele Grüße und bis zum nächsten Mal bzw bis zur nächsten Schmunzelstory.

Schreibe einen Kommentar