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Der Ball war drin

„Ich will eine Scheibe von dem Käse hier vorne!“, sagt der Kunde, der neben mir an der Theke steht. Er zeigt auf ein Stück, das direkt vor ihm hinter der Glasscheibe liegt. Die Verkäuferin taucht in die Auslage ab, ihre Beine baumeln schon in der Luft. Sie hat Mühe, nicht vornüber in die Theke zu fallen. Gerade bekommt sie das begehrte Stück zu fassen und versucht, wieder auf die Füße zu kommen, da präzisiert der Kunde schon: „Genau einen Zentimeter dick!“ Mit Daumen und Zeigefinger zeigt er exakt an, was er sich unter einem Zentimeter vorstellt. In seiner Stimme klingt etwas mit, was ich spontan nicht mag, es hört sich so rechthaberisch an.

Ich glaube, die Verkäuferin hat es auch gehört. Sie hat wieder festen Boden unter den Füßen, setzt das Käsemesser an und fragt: „So?“ „Genau einen Zentimeter dick!“, wiederholt der Mann. Jetzt zeigt er seinen exakten Zentimeter nochmal an und reckt dabei die zur Schieblehre gewordene Hand über den Thekenrand. Ich habe einen Blick für Maße. Sein Zentimeter ist mittlerweile um mindestens sieben Millimeter gewachsen. Ich unterdrücke ein Grinsen, kann aber nicht verhindern, dass sich meine linke Augenbraue nach oben bewegt. Die Verkäuferin entscheidet sich beherzt für ihre Interpretation eines Zentimeters und legt dann das Stück Käse auf die Waage. Auf dem Gesicht des Kunden lese ich Unzufriedenheit. Wahrscheinlich nimmt er sich gerade vor, die Scheibe zu Hause nachzumessen und sich dann ordentlich aufzuregen. Immerhin lässt er die Verkäuferin in Ruhe und meckert jetzt nicht rum.

Meiner Schätzung nach ist das Stück Käse etwa elf Millimeter dick. Für mein Verständnis von Käsescheibendickentoleranz ist das ein Volltreffer, ich nicke der Verkäuferin anerkennend zu. Die weiß zwar nicht, warum ich ihr zunicke, aber sie erwidert das Nicken professionell und garniert es dazu noch mit einem Lächeln. Wie schön!

Vor mir ist noch eine andere Kundin an der Reihe. Ich nutze die Zeit, um über Toleranzen nachzudenken. In der Technik sind Toleranzen der Erkenntnis geschuldet, dass es exakte Maße in Wahrheit gar nicht gibt. Wir müssen einfach damit leben, dass es immer noch Nachkommastellen geben wird, die uns vom exakten Ideal trennen. Also haben wir Grenzen für die Abweichungen vom Ideal vereinbart, und innerhalb dieser Grenzen tolerieren wir alle Ungenauigkeiten. Die so getroffenen Vereinbarungen stehen als Normen zur Verfügung.

In gesellschaftlichen Bereichen ist das mit der Toleranz schon schwieriger. Im allgemeinen Sprachgebrauch geht es dabei leider zu oft nur darum, was ich erdulden oder ertragen muss. An Weitherzigkeit oder Nachsicht denkt da kaum noch jemand. Andere Menschen einfach mal gewähren lassen, ihre Überzeugungen gelten lassen, auch wenn sie nicht den eigenen entsprechen, das müssen wir regelrecht üben.

Zum Glück ist Toleranz an sich zurzeit positiv besetzt. Wir wollen unbedingt als tolerant gelten! Nebenbei: Die Gesellschaft funktioniert ohne Toleranz gar nicht. Wir würden uns ständig gegenseitig die Köpfe einschlagen! Ich kenne wirklich niemanden, dessen Gedanken oder Verhaltensweisen noch nie die Toleranz eines anderen Menschen gefordert haben. Individuell und einzigartig und frei mag ich sein! Und ohne die Toleranz der anderen wäre das überhaupt nicht möglich. Um mich herum sollen sich bitte auch individuelle, einzigartige und freie Menschen tummeln, eben spannende Leute. Schon allein deshalb möchte ich selbst auch tolerant sein!

Der Rheinländer bringt es auf die einfache Formel: Jeder Jeck ist anders!

Leider sind manche Menschen auf eine so spezielle Weise individuell und einzigartig, dass ich es schier nicht aushalte. Gitti gesellt sich zu mir an die Käsetheke. Ich überfalle sie also gleich mal mit den Fragen, die mich beschäftigen: „Muss ich eigentlich auch Intoleranz tolerieren? Wo sind die Grenzen? Wo führt das hin?“ Gitti wundert sich, wie ich gerade jetzt auf solch ein Thema komme, aber sie geht auf mich ein. Nach einer Weile sagt sie: „Also, wenn Du Intoleranz immer nur tolerierst, dann gibt es irgendwann keine Toleranz mehr. Deshalb ist es wirklich wichtig, die Toleranz gegen die Intoleranz zu verteidigen. Das darf man nicht einfach so laufen lassen!“

Die Käseverkäuferin meldet sich zu Wort: „Was darf es für Sie sein?“ Gitti und ich unterbrechen unsere Unterhaltung und bringen erstmal unseren Einkauf zu Ende.

Ich hänge noch eine Weile meinen Gedanken nach. Im Büro verkünde ich immer: „Wer Kenntnis von einem Problem hat und nichts unternimmt, der ist Teil des Problems.“ Weggucken ist also keine Alternative. Ich muss aber auch nicht immer sofort aktiv werden. Manches relativiert sich zum Glück von allein. „Erkenne, was wichtig ist!“, nehme ich mir vor.

Und dann gibt es auch noch das Problem mit der Akzeptanz. Bei der muss ich zunächst einmal anerkennen, dass etwas so ist, wie es eben ist. Damit leider nicht genug, ich muss auch noch zustimmen, etwas gutheißen oder zumindest mein Einverständnis erklären. Freiwillig! Im Zweifel auch durch Resignation, vielleicht also in einer aussichtslosen Lage und unter einem gewissen Protest. Tolerieren ist wenigstens passiv, aber beim Akzeptieren muss ich aktiv werden. Quasi unterschreiben! Mist!

Schon regt sich mein Widerstand. Mir fällt ein Treffen mit unseren Freunden ein, da haben wir zusammen Minigolf gespielt. Lustig und vergnügt tummelten wir uns auf den Bahnen. Bei uns allen war der letzte Besuch auf dem Minigolfplatz schon lange her. Da war echt Demut gefragt, weil wir doch alle so sehr hinter der angestrebten Vollkommenheit zurückblieben, trotz aller Anstrengung. Auf der einen Bahn sauste mein Ball auf das Loch zu, drehte eine elegante Runde um das Loch herum und rollte anschließend den kleinen, zwischen mir und dem Loch gelegenen Hügel wieder herunter. Dreimal hintereinander! Unverschämt!!

Mich ritt ein kleines Teufelchen, also verkündete ich: „Eigentlich war der Ball ja drin, oder? Ja, der Ball war drin! Mein Gefühl ist eindeutig: Der Ball war drin!!“ Alle guckten mich an, als würde ich nicht mehr sauber ticken. Mein inneres Teufelchen freute sich. Ich fühlte mich jetzt so richtig in das innere Teufelchen ein, das die Tatsachen einfach nicht hinnehmen wollte und spielte meine Empörung weiter aus. „Ich kenne schließlich die Regeln!“, rief ich aus. „Wisst Ihr, ich bin nämlich überhaupt nicht einverstanden! Mein Schlag war super!“

Die Freunde versuchten, mich zu beruhigen. Keines ihrer Argumente ließ ich gelten, ich nutzte jede Gegenrede nur, um mich weiter in die Rolle des Teufelchens hineinzusteigern. Ich kam auf die Idee, alternative Fakten zu erfinden. So ein Loch hat ja immer einen Metallrand. Der ist in die Bahn eingelassen, er steht niemals oben heraus, sonst funktioniert das ganze Spiel einfach nicht. Welch ein wunderbarer Ansatz! Ich plusterte mich also mächtig auf und schimpfte weiter. Das gipfelte schließlich in: „Wie kann man den Metallrand des Loches so weit überstehen lassen?!? Ein halber Millimeter wäre in Ordnung gewesen, den hätte mein Ball locker überwunden. Dieser Rand hier, der steht bestimmt viel weiter nach oben heraus. Das kann ja nichts werden! Das war nämlich ein klares Hole-in-one! Betrug!! Ich verklage das Loch!!!“

Die Freunde standen um mich herum, alle drei hatten die Hände in die Seiten gestemmt und guckten mich ungläubig an. Vor lauter Schreck zweifelte niemand an der Behauptung bezüglich des Metallrandes, zumindest gab es keine Beschwerde, dass ich da Quatsch erzählen würde. Doch jetzt war es genug, das hatten sie echt nicht verdient!! Ich entspannte und entschuldigte mich: „Sorry, ich wollte nur wissen, wie es sich anfühlen würde, wenn ich irgendwo Ex-Präsident wäre.“

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Mauro und Gianna

    😂🤣🤣🤣🤣🤭👍🏻👍🏻…….
    🙋🏻‍♂️🙋‍♀️Danke für diese Story!
    Vor allem für den Teil mit dem Minigolf 🤣🤣

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