Wenn es mal so gar nicht nach meinen Vorstellungen läuft, versuche ich zuerst, eine Lösung zu finden. Was auch sonst! Keine Lösung in Sicht? Wenigstens eine Idee für einen Kompromiss? Nein? Es ist wie verhext, da tut sich weit und breit einfach keine Lösung auf. Was ich auch mache, nichts bewegt sich in die richtige Richtung. Für meine Nerven ist das gar nicht gut.
Am Ende erzähle ich dann meistens Gitti, was mich konkret umtreibt und was ich schon alles versucht habe. Vielleicht hat sie noch eine Idee. Ich setze darauf, dass sie mein Fels in der Brandung sein wird. Schön ist, dass wir diese Rolle als Fels in der Brandung abwechselnd übernehmen. Auf diese Weise bieten wir uns gegenseitig Halt und Schutz oder wenigstens ein wenig Trost. Der einfache Trost besteht schon darin, sich mit all seinem Unglück gesehen zu fühlen. Allein dieser Trost hilft dabei, wieder in die Spur zu kommen. Er beflügelt die Kreativität, mit deren Hilfe sich auch wieder Lösungen finden lassen. Manchmal sorgt er auch nur dafür, dass man sein blödes Problem für eine kleine Weile loslässt. Das ist sehr wohltuend!
Heute habe ich kein aktuelles Problem. Gitti und ich hören aber immer wieder davon, dass der allgemeine Ton rauer wird. Also diskutieren wir darüber, wie wir den Menschen begegnen wollen, die immer gleich so aggressiv auf jeden noch so kleinen Impuls des täglichen Lebens reagieren. Solche Begegnungen finden Gitti und ich total anstrengend. Vermutlich ist das auch für die anstrengend, die da immer gleich ausrasten. Was also können wir tun?
Wenn der Nachbar auf der Straße schreit, weil ihm etwas nicht in den Kram passt, was ist dann eine gute Reaktion? Brülle ich zurück? Halte ich nur die Klappe und gehe weiter? Was passiert, wenn ich ihm ein Lächeln schenke und sage: „Ich wünsche Ihnen auch einen schönen Tag“? Wird er verblüfft sein, wird es ihn entwaffnen? Oder provoziert ihn das noch mehr?
Mit Menschen, die brüllen, diskutiere ich nicht. Ich muss mir nur vorstellen, was im Körper passiert, wenn man mit Brüllen beschäftigt ist, dann kann ich wissen, dass fremde Worte und Gedanken zu dieser Zeit keinen Eingang ins Hirn finden können. Brüllen und Denken sind nicht kompatibel! Zum Glück brüllt mich in der Regel niemand an. Vielleicht spüren die Menschen schon vorher, dass ich mir ihr Gebrüll auf keinen Fall anhören werde.
Begegne ich in der Stadt einem Griesgram, dann schenke ich ihm ein Lächeln. Ich vertraue darauf, dass er es mir nicht übel nimmt. Bisher ist niemand auf mich losgegangen. Manch ein Griesgram hat dann selbst gelächelt, und dann habe ich mich darüber gefreut.
Ein anderer bemerkt es vielleicht erst gar nicht. Soll ich ihn dann mal schubsen oder anschreien? Einfach so? Nein, das passt nicht zu mir. Wenn ich ein Lächeln verschenke, ist das ein Geschenk. Und an Geschenke sollte man keine Erwartungen knüpfen. Gar keine!! Nie!!! Möglicherweise bekomme ich im Anschluss selbst etwas geschenkt. Zum Beispiel den Anblick eines glücklichen Gesichts. Aber das ist weder selbstverständlich noch eine garantierte Reaktion auf mein Geschenk. Wenn ich es bereits erwarte, mache ich mit meiner blöden Erwartung das Geschenk des anderen kaputt, lange bevor er es mir überreichen kann.
Gitti sagt, dass aggressives Verhalten oft eine Schutzreaktion ist. Die Botschaft: Wenn ich laut genug belle, wirst Du mich nicht beißen. Wenn Du mir zutraust, dass ich Dir gleich wehtue, dann provozierst Du mich besser nicht. Es geht also um die Prävention einer möglichen Verletzung. Dabei spielt es keine Rolle, ob ich den anderen verletzen will. Er traut mir zu, dass ich ihn gleich körperlich oder seelisch verletzen könnte, und deshalb hindert er mich daran, noch bevor ich damit überhaupt anfangen kann.
Hui, das ist bestimmt total anstrengend. Da muss man ja ständig Duftmarken setzen, nur damit sich niemand traut, der kleinen Seele ein Leid zuzufügen!
Ich trete innerlich oft nur einen kleinen Schritt zur Seite. Dann läuft solch ein Präventivangriff wie von selbst an mir vorbei. Das bedeutet nicht, dass ich mir alles gefallen lasse, ganz und gar nicht! Aber ich muss auch nicht auf alles reagieren. Während die Aggression also an mir vorbei ins Leere läuft, überlege ich manchmal, ob es eine charmante Möglichkeit zum Konter gibt.
Ich erzähle Gitti von einer Begegnung, bei der sich neulich erst jemand bei mir darüber beschwert hat, dass „das Netz“ glaubt, ihn pausenlos verarschen zu können. Es gipfelte in einem: „Was bilden die sich eigentlich ein, wer sie sind?!?“ Daran schlossen sich noch ein paar wilde Gewaltfantasien an. Sein Vortrag war lautstark, und weil ich gerade so live und in Farbe vor ihm saß, schleuderte er mir seine ganze Aggression entgegen. Vorwiegend verbal, aber schon auch mit großem Gefuchtel seiner beeindruckend langen Arme. Gemeint hat der aufgeregte Tropf natürlich nicht mich, sondern im Internet agierende Firmen, von deren Werbestrategien er sich extrem belästigt fühlte.
Puh, war das anstrengend! Ich hatte überhaupt keine Lust, mir den ganzen Sermon weiter anzuhören. Scheinbar interessiert zog ich eine Augenbraue nach oben. Dann habe ich mich zu Wort gemeldet: „Oh, auch eine schöne Idee. Das ist bestimmt eine super Strategie, um Kunden an sich zu binden. Hast Du das bei Euch im Betrieb schon vorgeschlagen?“ Er war perplex, seine ganze Aggression verpuffte. Im Anschluss überlegten wir gemeinsam, wie man seine Kundschaft wohl am effektivsten vergraulen und dabei jede Menge Spaß haben kann. Was haben wir gelacht! Am Ende machte er mir das Kompliment, ich sei heute sein Fels in der Brandung. Vielen Dank!
Dann fällt Gitti und mir ein: Kleine, schützenswerte Seelen stecken auch in ganz kleinen Menschen. Mit dem Leben in dieser verrückten und zugleich schönen Welt sind die kleinen Erdenbürger noch nicht so vertraut, weil sie ja noch nicht so alt sind. Ihre Eltern müssen über große Teile des Tages die Rolle des Felses in der Brandung übernehmen. Sie müssen die Welt erklären und zugleich Schutz bieten. Zu Beginn des Lebens kann man ja im Wesentlichen schlafen, Nahrung in feste und flüssige Ausscheidungen umwandeln, schreien, weinen und unglaublich charmant lächeln. Die schon älteren Menschen in der Umgebung müssen sich um den Rest, vor allem um den Service kümmern.
Irgendwann geht die Servicestation kaputt. Stück für Stück. Immer mehr Zeug soll der heranwachsende Mensch plötzlich selbst tun und verantworten. Der Egoismus wird mit der Zeit gebrochen, und das ist auch erforderlich. Zumindest in einem gesunden Maß. Die Felsen in der Brandung haben sich in den Kopf gesetzt, ein soziales Wesen heranziehen zu wollen. Prima!
Paradox ist: Erst lernst Du sprechen, und wenn Du das dann kannst, sollst Du die Klappe halten.
Der Aktionsradius wird mit der Zeit größer. Mehr und vor allem fremde Menschen beteiligen sich in zunehmendem Maße an der Erziehung und der Vermittlung von Wissen und sonstigen Fähigkeiten. Sie bringen ihre eigenen Vorstellungen und Ziele mit ein. Sie machen Dinge anders, als die Eltern der ihnen anvertrauten Kinder. Die Eltern müssen lernen, ihre Kinder Stück für Stück loszulassen. Ihre Rolle ändert sich. Sie können und sollen nicht mehr ständig höchstpersönlich Wache halten. Wer weiß, ob die anderen Leute das kostbare Kind nicht versehentlich kaputtmachen? Ich denke, die Eltern müssen da ganz schön viel Mut aufbringen.
Gitti und ich brechen zu einem kleinen Spaziergang auf. Wir kommen an einer Grundschule vorbei, auf deren Hof ein schöner Spielplatz errichtet wurde. Neugierig wagen wir uns aufs Gelände, um den Spielplatz besser bewundern zu können. Und dabei entdeckt Gitti an der Tür ein Schild – mit der Aufschrift: „Liebe Eltern, ab hier schaffen wir das alleine!“
Hallo Miri und wieder vielen Dank für den Text.
Zum Thema habe ich zwei Zitate – beide sinngemäß aus dem Gedächtnis zitiert. Das erste Zitat ist von Vera F. Birkenbiehl „Wenn ein Mensch nur emotional reagiert, kommt diese Reaktion direkt aus dem Reptiliegehirn und das kennt nur zwei Reaktionen: Flucht oder Kampf. Ein Solche Mensch wird vom „homo sapiens“ zum „hormo sapiens“ (in ihren englischen Kursen nennt sie das „hormo sap“) ein nettes Bild, was sehr gut passt, finde ich.
Das andere Zitat ist von Michael Ende aus „Momo“ – „Warum macht man die Menschen unsicher?“ – „Weil man unsichere Menschen ganz einfach beherrschen kann.“ Leider haben das sehr viele Personen verstanden und nutzen die Unsicherheit dazu, homo sapiens zu hormo sapiens zu machen, um sie für ihre Ziele einzusetzen.
Das ist ein sehr ergiebiges Thema, über das man stunden- und tagelang diskutieren kann, ohne unterschiedlicher Meinung zu sein – einfach in dem man die unterschiedlichen Bereiche aufzählt und beschreibt, in denen Menschen manipuliert, mehr oder weniger verunsichert gehalten und wo mangelnde Vorsorge und Voraussicht sogar „belohnt“ wird – alles mit dem Ziel, diese für sich einzuspannen.
Dazu ein drittes Zitat – Reinhard Mey „Bevor ich mit den Wölfen heule“:
„Mehr als zwei sind eine Gruppe
Jeder Dritte hat ein and’res Ziel
Und nagelt mit Engelsmiene
Beiden einen auf die Schiene“