You are currently viewing Die Botin vom Boot

Die Botin vom Boot

Ich schrecke aus dem Schlaf, muss mich erst einmal sortieren und weiß auch nicht wirklich, wo ich gerade bin. Gitti schnorchelt neben mir selig vor sich hin, ich weiß also sicher: Hier ist alles in Ordnung.

Mein Herz pocht laut, immerhin lebe ich, aber: Was war denn das?!?

Meine Gefühle kann ich noch nicht so recht zuordnen. Ich horche in mich hinein. Angst kann ich ausschließen, aber Aufregung und Spannung spüre ich noch deutlich. Klar weiß ich, das war ein Traum, aber worum ging es da?

Ich krame in den Bildern, die sich gerade aus meinem Kopf verabschieden wollen, einen Teil davon erhasche ich noch. Jetzt versuche ich den Traum zu rekonstruieren. Das ist gar nicht so einfach, stelle ich fest. Im Schlaf gelten ja ganz andere Gesetze als im Wachzustand. Egal, ich bin neugierig und gebe alles, lasse mich ganz in meine Erinnerungsfetzen zurückfallen.

Ich sitze in einer Art Achterbahn, der Wagen ist unser Wasserbett und damit rausche ich gerade um eine Kurve. Gitti liegt neben mir und schnorchelt ungerührt vor sich hin. Sie wecke ich jetzt besser nicht, solche Fahrten mag sie gar nicht. Also ziehe ich ihre Decke hoch über ihre Schulter, so ist sie wohl behütet. Fahrtwind rauscht durch meine Haare und plustert mein Shirt am Rücken auf. Die Sonne kitzelt mein Gesicht, sie scheint vom tiefblauen Himmel auf uns herab. Alles ist leicht.

Die Bahn umgibt eine Wiese. Um uns herum sehe ich hohe Buchen mit glatten grauen Stämmen, die gezackten Buchenblätter rauschen leise im lauen Wind. Vor uns befindet sich jetzt eine Art liegender Schraube. Die Bahn krümmt sich um die Fahrachse. Kurz vor der Einfahrt in die Schraube hebt sich das Fußteil des Bettes und bremst uns sanft ab, wir kommen zum Stehen, das Fußteil senkt sich wieder.

Die Bahn vor uns sieht jetzt aus wie eine Doppelhelix. Diese verdrehte Strickleiter ist das typische Bild, das ich von einer DNA habe. Neben mir entdecke ich einen kleinen gewundenen Fluss. Ein paar Meter vor uns legt gerade ein schmales Boot an einem Steg an. Das Boot sieht aus wie eine Gondel. Es ist mit Girlanden aus bunten Blumen geschmückt, deren Duft zu uns herüberweht. Jetzt steigt jemand aus. Ich bin versucht, Gitti zu wecken, aber sie erschreckt sich dann bestimmt, außerdem wirkt sie doch gerade so friedlich und entspannt.

Die Person, die soeben die Gondel verlässt, trägt eine Art Uniform. Sie sieht ein bisschen aus wie die von der Schweizer Garde, also mit Puffärmeln und Pluderhose. Dazu trägt sie einen Hut mit großen weißen Federn obendrauf. Am breiten Gürtel der Hose ist eine Kordel befestigt, an der ein kleines Posthorn baumelt. An ihrer linken Seite hängt eine Tasche. Deren Tragegurt führt diagonal herüber auf die rechte Seite und ruht dort auf der Schulter. Jetzt klappt die Person die Lasche der Tasche hoch und fördert einen Umschlag zu Tage. Außer uns ist weit und breit niemand zu sehen. Sie schließt ihre Tasche, kommt nun festen Schrittes direkt auf mich zu und reckt mir den Umschlag entgegen.

Offensichtlich ist sie eine Botin. Aber was will sie jetzt von mir? „Wer sind Sie?“, frage ich etwas ungelenk. „Ich darf mich vorstellen, mein Name ist Messenger, Erena“, sagt sie feierlich. Sie scheint es eilig zu haben, denn sogleich darauf sticht sie ein paar Mal mit dem Umschlag in meine Richtung, damit ich ihn entgegennehme.

Ich ziehe lieber meine Decke etwas höher und richte mich kerzengerade auf. „Aha. Was wollen Sie von mir?“ „Na, ich bin die RNA-Botin!“, ruft sie mir zu, als wäre das das Normalste auf der Welt. „Wie jetzt? Ja und?“ „In dem Umschlag sind die Baupläne, die sie einlesen sollen.“ „Ich? Baupläne? Wofür?“ Frau Messenger guckt mich genervt an. Sie zieht ihre rechte Augenbraue nach oben und sticht noch einmal mit dem Umschlag in meine Richtung. „Nehmen Sie schon! Und lesen Sie sie endlich in Ihre Zellen ein!“

„Wo einlesen?“, frage ich ungläubig. „In Ihre Zellen!“ „Wie komme ich denn dazu? Und was für Baupläne sind das überhaupt, Frau Messenger? Was genau baut man damit?“ Ihr Ton wird jetzt freundlicher: „Erena, sagen Sie einfach Erena zu mir, ja? Sie lesen das jetzt bitte ein und dann baut Ihr Körper damit Antigene, okay?“ „Wie bitte?!?“

Erena lächelt mich an. „Das ist eine Art Impfung. Damit Sie gesund bleiben!“ Ich bin skeptisch. „Ich soll was in meine Zellen einbauen?“ „Ja, aber nicht in den Zellkern. Nur drumherum.“ Erena unterstreicht das Drumherum mit kleinen Spiralen, die sie mit dem Zeigefinger der freien Hand in die Luft malt. „Und was genau macht die Zelle dann damit?“ „Sie liest den Bauplan quasi wie einen Lochstreifen oder ein Rezept ein, und dann weiß sie, wie sie bestimmte Proteine herstellen kann. Und zwar nur mit den Sachen, die Sie in Ihrem Körper vorrätig haben. Das ist wie Kochen mit Zutaten, die sowieso noch im Kühlschrank rumliegen.“

Erena fährt fort: „Die Proteine, sie wissen schon, die sehen dann quasi wie das Gegenstück zu diesen Füßchen an den Kugeln aus, die Sie dauernd im Fernsehen sehen, wenn es wieder mal um Viren geht. Und mit diesen frisch zubereiteten Proteinen reagiert Ihr Körper dann: Kommt ein Virus vorbei, wehrt Ihr Körper sich mit einer passenden Immunantwort und schützt Sie so vor der Viruskrankheit.“ „Und meine DNA wird dadurch nicht verändert?“ Erena macht eine wegwerfende Handbewegung. „Nein. DNA sind zwei Stränge mit Erbinformation, RNA ist nur ein Strang mit Kochrezept. Das Kochrezept existiert nur eine Weile, danach wirft Ihr Körper das Rezept einfach wieder weg.“ „Was ist das denn für ein Argument?“

„Überlegen Sie es sich“, schlägt Erena vor. „Fahren Sie noch eine Runde mit Ihrem schönen Bett in der Achterbahn und kommen Sie wieder, wenn Sie entschieden haben, was Sie wollen.“ Sie tritt einen Schritt zurück und haut auf einen roten Buzzer, der sich plötzlich neben ihr materialisiert hat. Das Bett legt einen Schnellstart hin und braust mit uns über die Bahn. Gitti dreht sich, murmelt etwas und schläft weiter. Mitten in einem atemberaubenden Looping schrecke ich aus dem Schlaf, muss mich erst einmal sortieren und weiß auch nicht wirklich, wo ich gerade bin.

Gitti wacht auf, streckt sich, guckt mich erstaunt an und fragt: „Bist Du schon wach? Machst Du uns einen Kaffee?“

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Mauro und Gianna

    Diese Geschichte gefällt uns sehr 👍🏻😀
    und das Rezept für die Impfung auch!!
    Danke 🙏🏻🙏🏻

Schreibe einen Kommentar