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Die Drossel und der Schnaps

Im Garten steht ein großer Apfelbaum. Heute trägt er keine Äpfel, sondern Schnee – und außerdem noch ganz viele große Bollen, die ich mir jetzt mal genauer ansehen muss. Klar, das können nur Vögel sein, da waren vorhin nämlich noch keine Bollen!

Wow, die sind ganz schön groß! Und hui, da kommen noch mehr! Ein ganzer Schwarm lässt sich auf den Ästen nieder und schaukelt auf und ab. Ich klebe mit der Nase an der Scheibe der Balkontür. Es ist kalt, der Wind weht mäßig um die Ecken, und die Vögel plustern sich mächtig auf. So aufgeplustert finde ich sie besonders hübsch. Als Stadtkind weiß ich natürlich mal wieder nicht, was das für Vögel sind. Sie haben einen weißen Bauch, ihre ockerfarbene Brust ist schwarz gestrichelt, die Köpfe sind grau, die Schnäbel gelb. Unsere schwarze Hausamsel sitzt mitten unter ihnen, sie ist ungefähr so groß wie die anderen Vögel.

Gitti kommt vorbei, guckt, was ich da mache und läuft weiter zu dem Regal, das hilfreiche Bücher zu allen möglichen Themen beherbergt. Alle Vögel bis auf die Amsel starten wie auf ein geheimes Zeichen hin gleichzeitig vom Baum und drehen eine Runde durch die Luft. Bald sind sie auch schon wieder da und schaukeln auf den Ästen herum. Gitti und ich machen uns an die Recherche. Außer Büchern hat Gitti noch etwas anderes zu bieten: ein stilvolles Opernglas mit Goldrändern und Perlmuttbesatz. Damit gucken wir uns die hübschen Bollen noch einmal genauer an. Ich komme mir vor wie ein Paparazzo. Manche der Vögel starren ungehalten zu uns zurück, andere, so scheint es mir, setzen sich regelrecht in Pose.

Die Recherche ergibt eindeutig, dass es sich um Drosseln handelt, genauer noch: da sitzen Wacholderdrosseln.

In meinem Hirn explodiert sofort eine Assoziationskette: Wacholderdrossel, Wacholder, Kreuzworträtsel, vierzehn senkrecht, Gin, Genever, Wacholderschnaps, Schnaps, Schnapsdrossel. Dann fällt mir noch eine Frau ein, von der es im Bekanntenkreis meiner Eltern immer bedeutungsschwanger hieß, sie sei eine Schnapsdrossel. Das ist lange her, da war ich noch klein, da hatte mir noch niemand erklärt, was das ist. Aber ich habe die Dame immer mit großem Respekt angestarrt, stets auf der Suche nach einem brauchbaren Hinweis. Hui!

Auf dem Baum wippen derweil die aufgeplusterten Wacholderdrosseln.

Gitti überlegt, ob die wohl auch Studentenfutter mögen. Sie hat sonst gerade nichts da, und sie sorgt sich, dass die kleinen Vögel vielleicht wegen des Schnees nicht genug Nahrung finden. Flugs arrangiert sie ein kleines Studentenfutterangebot auf dem Balkon. Ein paar Tage später sind die Nüsse verschwunden. Die Rosinen haben keinen Anklang gefunden. Wer sich genau für die Nüsse interessiert hat, wissen wir nicht.

Noch ein paar Tage später entdecken wir die Nüsse wieder, gut verstreut, genauer gesagt: nur vom Winde verweht.

Wieso eigentlich Schnaps-Drossel? Wieso Drossel? Der Gedanke wabert leise durch mein Hirn. Ich verfolge ihn nicht aktiv weiter. Also liegt er nur irgendwo im Hintergrund herum und rührt sich scheinbar nicht. Bis zum Abend. Da gibt es einen Krimi, und darin wird jemand erwürgt. Pfui! Das ist aber auch wirklich nicht nett! Wie kann man nur so brutal sein! Und dann fällt es mir ein: „Erdrosseln!“, rufe ich aus, „Klar! Die Drossel!“ Gitti erschrickt. Sie fährt hoch, scheinbar war sie schon selig weggedämmert, bevor ich jetzt wieder Krach machen muss. Sie rappelt sich auf und entschwindet wortlos in Richtung Bad.

In meinem Kopf geht es weiter: Die Drossel ist die Kehle, das Erdrosseln hat ja schließlich auch nichts mit den Vögelchen zu tun. Da wird mir nur die Kehle zugedrückt, bis ich… Wieso eigentlich mir?!? Wieso nicht dem Schuft von nebenan? Nein, das wünsche ich auch ihm nicht! Egal jetzt! Mein Hals fühlt sich eng an, er ist trocken. Ich brauche dringend einen Schluck Wasser! Oder besser noch ein Schlückchen Wein!! Oder noch besser: ein Schnäpschen!!!

Es ist aber gerade so gemütlich und ich habe keine Lust, aufzustehen. Also ignoriere ich, dass es mich dürstet und denke weiter vor mich hin: In der Technik gibt es auch haufenweise Drosseln. Die braucht man, um Ströme durch Leitungen zu begrenzen, egal, ob es sich dabei um elektrischen Strom, Flüssigkeiten, Gase oder Feststoffe dreht. Aber warum heißen jetzt diese Singvögelchen so? Vielleicht wegen ihres schönen Gesangs, den sie modulieren, indem sie beim Ausatmen mit ihren Muskeln die Membranen ihres Stimmkopfs unterschiedlich anspannen, sie zum Schwingen bringen und dabei den Luftstrom drosseln?

Nein, fällt mir ein, das machen alle Singvögel so. Auch die, die nicht zu den Drosseln gehören. Wahrscheinlich geht der Name „Drossel“ einfach nur auf eine lautmalerische Nachahmung des für die Drossel typischen Gesangs zurück, den sie aus voller Kehle zu Gehör bringt.

Jetzt lasse ich das Wort „Kehle“ durch mein Hirn wabern. Flugs dreht sich mein inneres Assoziationskarussell sinnfrei, aber hurtig weiter: Kehle, Luft, Gesang, Trinklieder, Singvögel, Amsel, Drossel, Fink, Star, Vogelschar, Specht, Schluckspecht. Ups.

Ich muss was unternehmen, so geht das nicht weiter! „Gitti, willst Du auch einen Schnaps?“

Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. Tom

    Also ich würde je gerne ein Schnäpschen am Abend mittrinken – Prost !

  2. Mauro und Gianna

    Eine reizende Geschichte, die nicht nur unsere Lachmuskeln trainiert, sondern auch unser Gehirn zum nachdenken verführt 👍🏻😀- warum die Drossel, Drossel heißt und das die Schnapsdrossel (die Tante) eigentlich ein Schluckspecht ist?????? 🤭
    Also……, am besten erst mal ein Schnäpschen 🤫

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