Du betrachtest gerade Die Ferien des Moctezuma

Die Ferien des Moctezuma

Der November zeigt uns unerbittlich sein graues Gesicht. Die Außentemperaturen fallen deutlich ab. Orkan Sigrid braut sich auf dem Atlantik zusammen und macht sich auf den Weg nach Europa. Gitti und ich sind reif für die Insel und fliehen.

Am frühen Morgen, gerade einmal vier Stunden nach Mitternacht, verlassen wir das Haus. Unser Reiseziel ist Boa Vista. Die kleine Insel liegt etwa auf der Höhe des Senegals vor der Westküste Afrikas und gehört zur Republik Kap Verde. Gitti und ich freuen uns auf sommerliche Temperaturen, Spaziergänge am Meer und vor allem auf eine entspannte Auszeit. Vielleicht bieten sich sogar Gelegenheiten zu kleineren Ausflügen.

Am Flughafen ist mäßiger Betrieb, wir kommen ohne Probleme durch alle Kontrollen und sitzen bald im Flugzeug. Miteinander zelebrieren die Passagiere die übliche Choreographie, stopfen die Gepäckfächer voll, zwängen sich mehr oder auch mal weniger elegant in die Sitzreihen und richten sich für die kommenden Flugstunden ein. Wie eine Kuscheldecke drapiere ich meine Daunenjacke über meine Knie. Zu dieser immer noch sehr frühen Stunde fühle ich mich auf diese Weise ein bisschen aufgehobener.

Schräg vor mir, auf der anderen Seite des schmalen Ganges, nimmt gerade ein Mann seinen Platz ein. Missmut dringt ihm aus allen Poren. Sein Blick funkelt finster und wütend durch große schwarze Locken, die bei jeder seiner Bewegungen unbändig vor seinen Augen hin und her tanzen. Neben seinem Missmut strahlt der Mann Stolz und große Entschlossenheit aus.

Der Start verzögert sich. Der Kapitän des Flugzeuges informiert uns darüber, dass eine Passagierin nicht mitreisen darf, weil ihr Pass ungültig ist. Leider hat man das erst bemerkt, als ihr Gepäck bereits aufgegeben und in den Laderaum der Maschine verbracht wurde. Vor unserem Abflug muss ihr Koffer nun gefunden und wieder ausgeladen werden.

Der missmutige Herr quittiert die Ansage des Kapitäns mit einem ausdrucksstarken Schnauben. Über seine Gesichtszüge huscht eine Kreuzung aus Schadenfreude und gestilltem Rachedurst. Derweil zähle ich im Geiste nochmal durch, wie oft ich seit der initialen Buchung unserer Reise schon ein Häkchen gesetzt habe, mit dem ich bestätigte, dass Gitti und ich im Besitz gültiger Ausweisdokumente sind, insbesondere gültiger Reisepässe. Wir haben vor geraumer Zeit sogar schon ein Einreiseformular ausgefüllt und elektronisch übermittelt, auf dem explizit das Datum abgefragt wurde, bis zu dem unsere Pässe gültig sind.

Wie kann man das nur übermerken? Vielleicht hat die Frau auch darauf gesetzt, dass niemand bei ihrer Aus- und Einreise so genau hinschaut. Hoffte sie insgeheim darauf, dass ein kleines Wunder vom Himmel fällt? Dennoch fühle ich mit ihr und male mir aus, wie sie enttäuscht am Flughafen sitzt und dann frustriert ihr Urlaubsgepäck wieder in Empfang nimmt.

Die Maschine hebt kurz darauf ab. Der Kapitän verkündet, dass wir in sechs Stunden auf Boa Vista landen werden. Gitti und ich lächeln voller Vorfreude auf unsere Urlaubserlebnisse um die Wette.

Als es zu Hause neun Uhr ist, serviert uns das Kabinenpersonal eine dampfende Portion Ravioli mit Steinpilzfüllung. Eine warme Mahlzeit zu dieser Uhrzeit empfindet Gitti als Herausforderung. Ungläubig nestelt sie an deren Verpackung herum und verbrennt sich daran fast die Finger. Doch dann steigt ein überraschend leckerer Duft aus dem Schälchen auf, dass nun dampfend vor ihr auf dem kleinen Klapptisch liegt. Der Duft wabert Gitti entgegen. Ihre Nasenflügel nehmen Witterung auf und vibrieren fast unmerklich. Gittis Miene hellt sich auf. Ihr fällt ein, zu welcher Uhrzeit sie aufgestanden ist. In Relation dazu kann man durchaus jetzt schon eine warme Mahlzeit vertragen, beschließt sie. Synchron stechen wir mit kleinen Holgabeln in die Schälchen. Mit eng angelegten Armen balancieren wir den ersten Bissen in Richtung unserer Münder. Eine winzige Turbulenz sorgt für anmutige Schleifen unserer Gabeln auf ihrem kurzen Weg durch die Luft. Die Ravioli schmecken hervorragend.

Der Herr mit den unbändigen Locken bestellt grantig etwas Hochprozentiges.

Ein paar Stunden später landen wir wohlbehalten auf einem kleinen Flughafen. Zu Fuß geht es über das Rollfeld zum gemütlich anmutenden Flughafengebäude. Vögel zwitschern fröhlich, und wir fühlen uns auf der Stelle willkommen geheißen. Das Personal bringt uns geduldig durch die elektronische Passkontrolle. Wir nehmen unsere Koffer in Empfang und schlendern vergnügt zu einem kleinen Bus, der uns zum Hotel bringen wird. Er fährt zügig über eine der beiden Hauptverbindungsstraßen, die es auf der Insel gibt. Das Geräusch der Räder auf dem schwarzen Kopfsteinpflaster ruft Kindheitserinnerungen in mir wach.

Unser Hotel liegt direkt am Meer. Ein langer, weißer, feinkörniger Sandstrand säumt das blaue Wasser, so weit das Auge reicht. Kokospalmen säumen die Wege durch die weitläufige Hotelanlage. Die geräumigen Zimmer befinden sich in kleinen, maximal zweistöckigen Gebäuden. Auf dem Bett liegt ein Willkommensgruß aus frischen Blüten.

Gitti und ich lassen uns schnell von der wunderbaren Atmosphäre einfangen. Abends wird auf der großen Terrasse, die zwischen Bar und Restaurant liegt, ein Tisch mit bodenlanger weißer Tischdecke aufgebaut. Hier bietet man uns kleine Appetithäppchen an, die wir dann genüsslich an den Tischen der Bar zum Aperitif verspeisen. Die Gäste wandeln zwischen Häppchen und Bar umher, bevor sie dann im großen Restaurant einkehren. Dort erwartet uns ein reichhaltiges Büfett. Fisch und Fleisch werden teils vor unseren Augen gegrillt. Hier findet wirklich jeder etwas, was ihm schmeckt!

In den ersten Tagen lassen wir vornehmlich unsere Seelen baumeln. Am Strand entdecken wir eine große Holzschaukel. Ein kleiner Esel läuft vorbei. Die Sonne scheint. Das gleichmäßige Meeresrauschen wird beständig von einem erfrischenden Wind begleitet. Tiefe Entspannung setzt ein.

Mit fast einer Woche Vorlauf buchen wir einen Ausflug, der uns einen besseren Einblick in das Leben der Insulaner verspricht. Gitti und ich freuen uns schon sehr darauf.

Plötzlich rumpelt es kräftig in meinem Darm. Gittis Zustand schließt sich etwas zeitverzögert dem meinen an. In der Nacht träume ich von dem missmutigen Mann aus dem Flugzeug. Sein stechender Blick bohrt sich tief in meine Augen, und ich höre ihn höhnisch auflachen. Ist der Herr aus dem Flieger vielleicht ein direkter Nachfahre des berühmten Aztekenherrschers Moctezuma? Hierzulande ist der besser bekannt als Montezuma – vor allem wegen des Fluches, mit dem er angeblich kurz vor seinem Tod alle Eindringlinge belegt haben soll. Zu rächen gab es eine verlorene Schlacht gegen die Spanier. Die hatten die Pocken ins Reich der Azteken eingeschleppt und die Einheimischen damit entscheidend geschwächt. Ist Herr Moctezuma junior nun hier angereist, um auf dieser ehemals von den Portugiesen beherrschten Insel weiter zu rächen, was deren spanische Nachbarn Anfang des 16. Jahrhunderts im fernen Aztekenreich angerichtet haben?

Unser Aktionsradius orientiert sich in den nächsten Tagen an der Lage sanitärer Anlagen. Gitti bemerkt, dass Rache noch nie zu etwas Gutem geführt hat. Wir sind uns einig darüber, dass Herr Moctezuma uns gefälligst in Ruhe lassen soll. Es geht langsam aufwärts. Wir liegen etwas nutzlos abwechselnd in der Sonne und im Schatten herum und genießen unseren schönen Urlaub so lange halt auf diese Weise. Die Schaukel steht derweil verlassen am Strand.

Bis zu unserem Ausflug verbessert sich unser Zustand, und von diesem Ausflug werde ich in meiner nächsten Geschichte erzählen.

Schreibe einen Kommentar