„Das ist Pebbling übelster Art!“, schreit gerade ein Mitfahrer in der S-Bahn sein Telefon an.
Pebbling? Kenne ich nicht! Was soll das sein? Ich frage Gitti, die neben mir sitzt. Sie weiß es auch nicht. Also notiere ich das Wort auf meinem Online-Notizzettel und beschließe, mich morgen damit zu beschäftigen. Heute mag ich das nicht mehr ergründen.
Es ist schon spät. Gitti und ich waren im Theater und befinden uns in diesem Moment auf dem Weg nach Hause. Uns beschäftigt noch sehr, was wir in den letzten Stunden im Theater sahen, und deshalb gibt es jetzt eine kleine Rückblende:
Unter dem Titel „Lear“ führt das Ensemble das Drama „König Lear“ von William Shakespeare auf und transportiert den Stoff zugleich über eine geschickt inszenierte Rahmenhandlung direkt in unsere Gegenwart. Die Handlung ist vielschichtig. Sie zieht uns in ihren Bann. Ich werde die Geschichte hier nicht nacherzählen, aber ich möchte ein paar Worte darüber verlieren, zu welchen Gedanken sie uns anregt und was uns deshalb auch jetzt noch ordentlich umtreibt. Deshalb umreiße ich kurz, um was es geht.
Ausgangspunkt des ganzen Dramas ist ja, dass König Lear vor seiner Abdankung und damit vor der Aufteilung seines Erbes von seinen drei Töchtern eine unterwürfige Liebesbezeugung verlangt. Zwei der drei Töchter spielen das Spiel zum Schein mit. Die dritte, von ihm eigentlich favorisierte jedoch, verweigert sich der von ihm erwarteten Lobhudelei. Sie sagt ihm ehrlich, was sie denkt und fühlt. Zur Strafe wird sie enterbt und verbannt. Danach entfalten sich allerlei Konflikte und Intrigen. Auf mehreren Handlungsebenen serviert, verstärken sie sich gegenseitig und treffen uns mit aller Wucht. Natürlich geht es viel um Macht, Hass und Rache. Lear wird wahnsinnig. Spät, aber immerhin erkennt er, was er angerichtet hat. Es kommt noch zu einer Versöhnung mit der verstoßenen Tochter, aber sie stirbt, und aus Schmerz über ihren Tod stirbt auch Lear.
Den Protagonisten der anderen Handlungsebenen ergeht es nicht besser. Am Ende des Stücks liegen mit Ausnahme einer einzigen Figur alle tot auf der Bühne. Uff.
Auf Gittis Gesicht kann ich deutlich lesen, was ich selbst gerade denke: Wir sollten unser eigenes Leben wirklich besser auf die Reihe bekommen!!
Es macht weder Sinn, sich an Intrigen zu beteiligen, noch jemandem große Gefühle vorzuheucheln, die man gar nicht so üppig ausgeprägt empfindet. Vielleicht mag man nicht immer direkt die ganze Wahrheit sagen und all seine Gedanken offenbaren. Dafür kann es triftige Gründe geben. Das ist also nicht per se schlecht. Sich in Schweigen zu hüllen, hilft so hier und da. Ansonsten schadet es nicht, einen Weg zu suchen, auf dem man sich offenbaren kann und auf dem sich Konflikte auflösen lassen.
Unsere menschliche Seele ist durchaus ein Ort tiefer Abgründe. Da nehme ich meine eigene Seele gar nicht aus. Zum Glück gibt es in ihr aber auch ganz bezaubernde Areale. Dort ist Platz für Harmonie, Glück und ganz viel Liebe. Selbst die kleine Zuneigung, die man für einen sympathischen Mitmenschen empfindet, verdient es, dass man sie einmal durch eine kleine Aufmerksamkeit ausdrückt. Manchmal reicht es schon, ein Lächeln zu verschenken. Das weiß doch eigentlich jeder, der solch ein Lächeln selbst schon einmal geschenkt bekommen hat, nicht wahr?
Pinguine machen das übrigens auch. Sie stehen für lebenslange Treue, wenngleich sie in der Regel Fernbeziehungen führen. In der Paarungszeit aber warten die Männchen am Nest auf ihr Weibchen. Und sie schenken ihrer Liebsten Kieselsteine. Diese Kieselsteine werden dann ins gemeinsame Nest integriert. Für einen Pinguin ist das ein super Geschenk!
Am nächsten Morgen fällt mir das Pebbling wieder ein. Das mir fremde Wort wollte ich doch noch nachschlagen, weil unser Mitreisender sich gestern in der S-Bahn so sehr darüber echauffiert hat.
Pebbling leitet sich zu meiner Überraschung vom englischen Wort Pebble ab, und das heißt übersetzt Kieselstein. Ach, guck! Und mit Pebbling sind kleine Aufmerksamkeiten gemeint. Genau so, wie der Pinguin Kieselsteine verschenkt!!
Aber wieso hat der Mann sich darüber so aufgeregt?
Scheinbar sind aufmerksame Gesten, wie ein freundliches Emoji oder ein schnell geäußertes Kompliment inzwischen in Verruf geraten. Das ist ja mal wieder typisch für Leute, die ständig alles derart kritisch hinterfragen müssen, dass sie dabei sogar die Ehrlichkeit anzweifeln, mit der man seiner Aufmerksamkeit Ausdruck verliehen hat. Ja, und für diese Menschen ist das schönste Kieselsteinchen plötzlich nichts mehr wert. Die liebevolle Geste verkehrt sich flugs in ihr Gegenteil.
Ich möchte auch nicht immer überschwängliche Bussis aufgedrückt bekommen, wenn man mir in Wahrheit lieber eine genervte Abfuhr erteilen würde. Ich reagiere in der Regel nicht immer gleich auf jede Nachricht mit einem kleinen Gruß oder einem kleinen Kommentar. Mag sein, dass ich dadurch auch mal bei jemandem in Ungnade falle. Die Kunst besteht wohl darin, es weder mit der einen noch der anderen Verhaltensweise zu übertreiben – wie immer im Leben.
Der Mann aus der S-Bahn hat inzwischen vielleicht ganz viele Herzchen und Küsschen empfangen, die nicht so ernst gemeint waren. Ob seine Erwartungen gestern das eine Mal zuviel enttäuscht wurden? Fühlt er sich hingehalten, verraten und in die Irre geführt? In Gedanken wünsche ich ihm aufrichtig viel Glück!
In unserer Küche wohnt eine kleine Holzschildkröte. Gitti hat sie mir vor einigen Jahren geschenkt, einfach so, ohne besonderen Anlass. Behutsam nehme ich sie nun auf die Hand. Die Holzschildkröte hat ein ganz wunderbares Lächeln. Sie ruht auf meiner Hand. Zwischen uns baut sich eine Verbindung auf. Die Holzfigur und ich tauschen ein fröhliches Zwinkern aus. Ihre Ruhe überträgt sich auf meine Seele. Ich gönne mir den Moment und halte inne.
Anschließend lese ich noch ein paar Artikel übers Pebbling. Die kleine Recherche ergibt, dass Pebbling zugleich positiv, als auch negativ besetzt ist – und so denke ich jetzt an den Pinguin und beschließe, sein Pebbling super zu finden.