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Die Wortkelle

Gitti erfindet gerne neue Wörter. Sie nimmt dazu die große Wortkelle, taucht sie tief in ihren großen Wortschatztopf ein und rührt kräftig um. Nach einer oder mehreren Runden in der Wortsuppe bringt sie die Kelle wieder an die Oberfläche. Drin liegt das frisch geschöpfte Wort. Und das baut sie sogleich in ihren wohlformulierten Satz ein – meist sehr zu meiner Freude!

Wortschöpfungen sind ein bisschen wie Kochen ohne Zutaten. Wer schon mal einen Blick in unseren Kühlschrank riskiert hat weiß, dass man noch eine gute Woche daraus leben kann, auch wenn wir schon längst der Meinung sind, der Kühlschrank sei leer, es befänden sich in ihm also gar keine Zutaten mehr.

Mit solch einer Interpretation, was „leer“ bedeutet, sind wir zum Glück nicht allein. Im Büro stand ich mal mit einer Kollegin zusammen in der Kaffeeküche. Wir hatten uns in die Schlange vor dem Kaffeeautomaten eingereiht. Ein Kollege kam hinzu, tauchte in den Kühlschrank ab, befand ihn für voll und tat sich schwer, sein winzig kleines Becherchen noch unterzubringen, das den Nachtisch enthielt, den er in der Kantine nicht mehr geschafft hatte. Die Verzweiflung strömte ihm aus allen Poren, wortlos, aber doch ohrenbetäubend. Mein Blick traf den der Kollegin, gemeinsam beugten wir uns ein wenig nach rechts und riskierten einen prüfenden Blick über die Schulter des Kollegen hinweg in den Kühlschrank hinein. Unsere Oberkörper schwenkten parallel zurück in die Vertikale und wie aus einem Munde sagten wir: „So sieht ein leerer Kühlschrank aus, da geht noch ganz viel rein!“

Der Kollege guckte uns entsetzt an. Er stand auf und drückte das Becherchen in seiner Faust fest zusammen. Es bekam unter dem aufgebauten Druck eine richtige Taille, der Deckel wölbte sich gefährlich nach oben. „In einen Männerkühlschrank“, hob er an, „gehören ein Glas Würstchen, eine Tube Senf und vier Flaschen Bier. Mehr nicht!! Dann ist er voll!“ Ich bin fest davon überzeugt, dass er unter einem leeren Kühlschrank etwas versteht, was dem Anlieferungszustand entspricht. Inhalt: ungenutzte Fächer und Licht – Werkseinstellungen halt.

Zurück zu Gitti. Virtuos schwingt sie also die Wortkelle und bringt dabei so manch bemerkenswertes Wortgebilde hervor. Häufig zieht sie einfach Teile aus mehreren Worten zusammen, die es bereits gibt. Vermutlich, um sich schneller präzise ausdrücken zu können. Zuweilen habe ich allerdings den Verdacht, dass sich einfach nur verschiedene Gedanken, die gerade parallel durch ihr Hirn rennen, gegenseitig überholen und sich dann bei der Lautbildung in ihrem Sprechapparat ineinander verknoten. Jedenfalls guckt sie selbst manchmal genauso überrascht, wie ich, wenn das Wort dann durch den Raum schwebt. Häufig wohnt alldem eine gewisse Komik inne, die sich dann wie Flügelchen links und rechts an das neu geschöpfte Wort anheftet, und dann geht mir das Herz auf. Mag sein, dass in ebendiesem Moment ein armer Linguist laut aufstöhnt.

Die Linguistik dient ja der systematischen Untersuchung der Sprache. Sie gibt Antworten auf zahlreiche Fragen, die sich um das Thema ranken. Und der Linguist ist damit derjenige, der dann irgendwann alles ausbaden und sich vielleicht sogar mit Gittis Sprachprodukten beschäftigen muss. Möge seine Freude daran so groß sein, wie meine es dann schon war! Ein spezieller Teil der Linguistik ist die Lexikologie. Ich glaube, dieser Teil kümmert sich um die Strukturierung des Wortschatzes und um unsere mentalen Lexika, also im Fall von Gitti um ihr inneres Wörterbuch und um die Art, in der ihr Gehirn Wörter und deren Bedeutungen organisiert.

Komposita heißen Worte, die aus bereits bekannten Wörtern zusammengesetzt und quasi neu komponiert wurden, wie etwa der allseits bekannte Straßenköter, das Sitzkissen oder das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz. Alle drei gehen nicht auf Gitti zurück. Sie macht nämlich gerne ihre eigenen Komposita und wird deshalb in meiner Vorstellung zu einer Komponistin, die statt Musikstücken eben Sprachstücke komponiert. Mit Gänsehauteffekt! Wow!

Gitti nutzt auch noch andere Möglichkeiten, wie die Derivation. Bei der kommen in den Wortschatztopf als Zutaten zum Beispiel lexikalische Morpheme und Affixe. Das Morphem ist die kleinste Spracheinheit, die eine Bedeutung oder eine grammatische Funktion trägt. Ganz oft handelt es sich dabei nur um ein Wort, das man nicht weiter zerlegen kann, wie das Herz. Und die Affixe sind schlicht Anhängsel, die man vorne, hinten oder drumherum platzieren kann, um dem entstehenden Wort seine Gesamtbedeutung zu verleihen. Das Affix „lich“ macht aus dem Herz dann herzlich, wie schön. Hänge ich aber vorne ein „un“ und ein „barm“ und hinten ein „ig“ an, wird es zu unbarmherzig. Pfui! Das kräftige Rühren mit der Wortkelle stellt also die eigentliche Derivation dar, und aus dem Topf schöpft Gitti dann etwas Neues: eine neue Form oder ein nagelneues Wort.

Heute gelingt ihr wieder etwas Besonderes. Was der arme Linguist damit anstellen mag, weiß ich nicht. Ob er sich wohl wieder nur aufregt, sich zum Aufstöhnen angeregt fühlt oder vielleicht doch ein wenig Freude daran findet und das Ding sprachlich ordentlich einsortiert? Gitti und ich sitzen jedenfalls beisammen und diskutieren angeregt über neue psychologische Erkenntnisse, von denen sie gelesen hat. Vom Thema völlig fasziniert, überschlagen sich unsere Assoziationen und Gedanken. Längst haben wir das Fenster geöffnet, um den Raum und unsere Gehirne mit frischer Luft zu fluten. In Gittis Sprechapparat verheddern sich ein paar Satzbestandteile. Ich bekomme gar nicht richtig zusammen, was sie mir da sagen will, aber ich frage geduldig immer wieder nach.

Nach einer Weile schiebt Gitti frustriert die Brille auf dem Nasenrücken ganz nach oben, richtet sich dann kerzengerade auf und bohrt wütend ihren Blick fest in meinen. Und schließlich tippt sie mit der Hand an ihre Schläfe und erklärt nachdrücklich: „Ich habe gerade Synapsenflattern im Knisterknast!“

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Akrobatik der Wörter!
    Herrliche Erweiterung des Wortschatzes!
    DANKE für diese tolle Anregung!

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