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Drinnen ausfahren

Gitti und ich sitzen gemütlich auf drehbaren Relax-Sesseln in einem kleinen Wintergarten. Rundum gibt es große Panoramafenster. Sie reichen fast vom Boden bis zur Decke hinauf. Ein großer Teil der Decke lässt sich wahlweise wie der durchsichtige Himmel eines Luxusautos zur Belüftung schräg stellen, so wegschieben, dass der Wintergarten nach oben offen ist oder mit einem Sonnenschutzrollo gezielt abdecken. Die seitlichen Panoramafenster kann man verdunkeln, sodass man noch gut hinaus-, aber nicht mehr hereinsehen kann. Üppige Pflanzen umgeben uns. Es gibt sogar eine Fußbodenheizung. Am Abend können wir indirektes Licht zuschalten und den Raum in eine heimelige Atmosphäre tauchen. Auf einem Beistelltisch stehen Knabbereien und leckere Drinks. Dazwischen liegen zwei Theaterkarten.

Gitti schließt die Tür des Wintergartens und fordert per Sprachbefehl ein Chassis an. Zwei Minuten später surrt es draußen leise. Unser Sharing-Chassis ist da. Der kleine Wintergarten koppelt sich automatisch von unserem restlichen Zuhause ab. In die Hauswand sind Führungsschienen und allerlei sonstige Technik integriert. Von draußen sieht man nur dezente Schlitze. Mittels eines Außenaufzugsystems fahren Gitti und ich mit unserem Wintergarten im ersten Stock zuerst ein bisschen horizontal am Gebäude entlang und dann hinunter zum zentralen Übergabepunkt des Hauses. Unser Zimmer setzt sanft und ruckfrei auf dem Chassis auf. Magnetventile zischen, Verriegelungen schließen, Sensoren prüfen den korrekten Sitz unseres Wintergartens auf seinem Fahrgestell.

Gitti hat dem System gegenüber längst kundgetan, wohin die Reise gehen soll. Wir prosten einander zu.

Der Wintergarten nimmt seine autonome Fahrt auf. Zügig fädelt er uns in den laufenden Verkehr ein und bringt uns sicher zum Theater. Wir müssen nicht vor Ort parken, sondern steigen einfach vor dem Eingang zum Foyer aus. Während wir uns unserem Theaterbesuch widmen, fährt unser Wintergarten zu einem Parkhaus in der Nähe und wartet dort darauf, dass Gitti ihn wieder anfordert. Es kann sein, dass unser Sharing-Chassis inzwischen andere Zimmer an anderen Adressen abholt und deren Bewohner darin irgendwohin fährt.

Die Theatervorstellung ist großartig. Nach dem Schlussapplaus nehmen wir noch einen Drink an der Bar. Wir kommen mit anderen Besuchern ins Gespräch und tauschen uns mit ihnen aus. Das Pärchen, mit dem wir uns gerade so gut unterhalten, ist ebenfalls mit einem ihrer Zimmer hier angereist. Letzten Monat erst haben sie ihr mobiles Zimmer aufgerüstet, so erzählen sie uns stolz. In eine der Zimmerecken ließen sie eine Nasszelle mit WC und Waschbecken integrieren. Gitti hört äußerst interessiert zu. Bestimmt wird dieser Luxus bald Gegenstand einer ihrer Recherchen!

Getränke und Gesprächsstoff gehen irgendwann zur Neige. Wir sind müde und möchten nach Hause. Gitti fordert unseren Wintergarten an. Irgendwo da draußen setzt sich ein leeres Chassis in Bewegung, holt erst den Wintergarten und dann uns ab. Aus einem Geheimfach unter dem Beistelltisch holt Gitti einen Absacker hervor. Wir schauen unterwegs noch ein wenig aus dem Fenster. Die Lichter der Stadt flitzen leise an uns vorüber.

Zu Hause wird der Wintergarten an das Aufzugssystem übergeben. Wir fahren damit automatisch wieder entlang der Hauswand, zuerst hinauf in den ersten Stock und dann ein wenig seitlich bis zur richtigen Position. Dort dockt der Wintergarten mit uns an die Wohnung an. Das Chassis ist längst woanders. Falls kein Folgeauftrag existiert, hängt es vermutlich jetzt schon platzsparend zusammen mit anderen Chassis in einer Chassis-Station und lädt seine Batterie auf.

Gitti öffnet die Tür zwischen Wintergarten und Wohnung. Wir gehen zu Bett.

Morgen werden wir uns mit Freunden zu einem Wagenburg-Event treffen. Vielleicht stehen unsere Zimmer dann im Kreis und wir Grillen gemeinsam in der Mitte. Sollte es regnen, koppeln wir einfach unseren Wintergarten mit den Zimmern der Freunde. Dann rücken alle zusammen, und wir sitzen gemütlich und fröhlich im Trockenen.

Ich male mir genüsslich aus, wie schön das Treffen wird.

Mitten in der Nacht wache ich schweißgebadet auf. „Gitti!“, rufe ich laut, „Wir haben doch gar keinen Wintergarten! Wie kommen wir bloß dahin?“

Gitti schreckt auf. Sie macht das Licht an. Mit meinem Ausruf kann sie offensichtlich überhaupt nichts anfangen. Ihre Lippen formen ein: „Wo hin?“ Unter dem Vorwand, zur Toilette zu müssen, schleiche ich mich schnell davon und prüfe heimlich, ob wir wirklich keinen mobilen Wintergarten haben.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Betina

    Was für ein netter Ausblick in eine mögliche Zukunft.

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