You are currently viewing Ein aufgeregtes Leben

Ein aufgeregtes Leben

Es passt mir nicht, ich finde es nicht logisch, ich rege mich auf! Eine leise Stimme fragt: „Aber wo liegt eigentlich das Problem? Und worum geht es überhaupt?“ Mich empört die bloße Frage, dennoch finde ich sofort Beispiele, die belegen, dass alles falsch, unlogisch und überhaupt nur dazu da ist, mich zu veräppeln, mich zu behindern, mich auszunehmen, mich zu gängeln. Soll der andere doch selbst herausfinden, was mich da umtreibt! Und dann versuche ich, all dem zu entkommen! Vor allem dem, was ich eigentlich jetzt tun sollte. Schließlich befinde ich mich in innerem Aufruhr, dem der äußere Aufruhr zu folgen hat. Ich bin auf Krawall gebürstet! Und ich bin in diesem Zustand selbstverständlich keinem Argument zugänglich, das wäre ja noch schöner!!

Kennst Du diesen Mechanismus? Er setzt zuverlässig sofort ein, wenn es mal gar nicht so läuft, wie es soll. Und jeder definiert natürlich selbst, wie es laufen soll. Die Kunst besteht darin, dem Mechanismus zu entkommen und sich rechtzeitig wieder in konstruktives Fahrwasser zu begeben. Wer das nicht schafft, hat ein aufregendes Leben. Oder eher ein aufgeregtes Leben?

Nachbar Hubsi, der mit den lauten Gerätschaften, führt definitiv solch ein aufgeregtes Leben. Aus weiter Ferne hört man ihn schreien. Und alle im Umkreis wissen: Hubsi regt sich auf. Manchmal höre ich Henni, seine Frau. Aber nur, wenn es ganz doll kommt, sie selbst einmal die Stimme erhebt und versucht, ihren Hubsi wieder einzufangen, bevor er mit der Kettensäge Unheil anrichten kann.

Offensichtlich ist es mal wieder Zeit, ihn einzufangen. Über den kostenlosen Analog-Twitter-Kanal in unserer Siedlung, also die Luft, verbreitet sich der Streit des Nachbarpaares.

Hubsi schreit: „Die sind ja nicht mehr ganz dicht! Ich werd‘ noch zum Hirsch!! Was bilden die sich eigentlich ein, was sie ungefragt mit unserem Geld machen können!?!“ Henni antwortet irgendwas, aber sie ist so leise. Ich kann dem Klang ihrer Stimme nur entnehmen, dass sie sich fremdschämt für ihren Hubsi, dass sie sich einen leiseren Hubsi wünscht. Eigentlich wollte ich die Balkontür gerade schließen. Es ist kalt, ich habe genug gelüftet, will noch etwas im Haushalt machen und halte das Staubtuch bereits in der Hand, aber ich bleibe wie angewurzelt stehen. Und ich bin nicht neugierig, wenn ich alles weiß!! Wirklich nicht! Also wickle ich die Strickjacke etwas fester um mich … Als ob das helfen könnte! Ich lausche und bibbere vor mich hin.

Nach einer Weile verstehe ich, dass es bei Hubsi und Henni gerade um die neue Werbe- und Sympathiekampagne des Landes Baden-Württemberg geht. Sie löst die bisherige Kampagne ab, die uns seit 1999 begleitet. Deren Motto hieß: „Wir können alles. Außer Hochdeutsch.“ Die alte Kampagne war eine der ersten ihrer Art in ganz Deutschland. Kaum ein Bundesland hat je zuvor so etwas gewagt, schon gar nicht so selbstironisch. Wenn ich es richtig weiß, warben zuvor nur Niedersachsen mit „Land mit Weitblick“ und Hessen mit „Hier ist die Zukunft“. Beide haben inzwischen andere Slogans. 2021 erfindet sich das Land Baden-Württemberg nun neu. Es hat irgendwo 21 Millionen Euro aufgetan, überlegt, was sich damit machen lässt und diesen neuen Slogan erdacht: „The Länd.“

Deshalb schreit Hubsi jetzt draußen herum: „21 Millionen? Wo Stuttgart 21 noch immer so große Löcher in die Stadt und vor allem in die Kasse reißt?“ Ja, genau! Das hat Hubsi richtig mitbekommen. Die Baustelle am Bahnhof ist immer noch beeindruckend. Und teuer, gell? Aber auch spannend. Na ja, wenn diese Kampagne auch 22 Jahre lang hält, dann macht das weniger als eine Million pro Jahr. In meinem Geldbeutel war zwar noch nie so viel Geld, aber angesichts des mehr als 50 Milliarden schweren Landeshaushalts schrumpft die Zahl gleich auf eine handlichere Größe.

Hubsi tobt derweil weiter. Die meisten der Schimpfwörter, die er da analog durch die Gärten twittert, kenne ich nicht. Er wiederholt auffällig oft „the Länd“, und bei jeder Wiederholung klingt es aufgebrachter. Es scheint, als wolle er sämtliche Leute, die daran beteiligt waren, persönlich nachäffen. Jeden einzeln. Hubsi steigert sich mächtig rein. Leider kann ich Hubsi von hier aus nur hören und nicht sehen. Sonst bin ich immer froh darüber, dass man ihn von uns aus nicht sehen kann. Und normalerweise würde ich ihn auch lieber nicht hören.

Die neuen, gelben Plakate sind mir auch schon aufgefallen. Wozu soll das alles gut sein? Hubsis Gebrüll entnehme ich, dass es eigentlich um Fachkräfte geht. Die sind mal wieder Mangelware. Und jetzt ist es wohl wichtig, sie anzuziehen, sie aufmerksam zu machen auf das tolle „Länd“. Hubsi glaubt, dass die teure Kampagne vom Chef einer hiesigen Automobilfirma und ein paar anderen Unternehmern bei der Politik regelrecht bestellt wurde. Er findet, dass diese Chefs sie dann auch gleich selbst bezahlen sollten – und nicht wieder nur Henni und er!

Diese Chefs mahnten jedenfalls vor einiger Zeit an, dass es für die Zukunft des Bundeslandes entscheidend sei, dass die klügsten und besten Köpfe herkommen. Solch eine Kampagne muss international gedacht werden, schließlich sitzen die begehrten Köpfe auf der ganzen Welt verteilt herum und wissen nicht, was sie hier verpassen, so der Tenor. Und das Wort „Land“ spricht man international eben „Länd“ aus. Mit Hochdeutsch statt Schwäbisch können die bestimmt nichts anfangen, das ist zu viel Lokalkolorit. Hubsi brüllt seine Angst vor der Verrohung der Sprache und vor dem Tod der Mundart in die Siedlung. Ihm ist es egal, dass der alte Slogan, „Wir können alles. Außer Hochdeutsch.“, durchaus erfolgreich war. Zur Not würde Hubsi das vehement abstreiten. Er kennt zudem niemanden, der deswegen hergekommen ist. Und die ganzen „Reingeschmeckten“, die schon ins „Länd“ kamen, sind unserem Hubsi sowieso suspekt.

An dieser Stelle wird es Henni zu bunt, sie lässt einen Schrei fahren, Hubsi verstummt, eine Tür knallt zu.

Mir ist immer noch kalt. Die Vorstellung ist leider vorbei, also ziehe auch ich mich ins Warme zurück. Ich frage das Internet nach „The Länd“. Bald flimmert ein lustiger Werbefilm über meinen Bildschirm. Es gibt auch einen Untertitel für den Slogan: „Wir können alles neu erfinden – auch uns selbst.“ Ich muss grinsen. Der nächste, unbedacht gesetzte Klick führt in den „Fänshop“. Dort gibt es Devotionalien zu erstehen, darunter natürlich Shirts aller Art. Sogar Socken und Babystrampler werden feilgeboten. Den Strampler ziert der Hinweis „Made in THE LÄND“. Der müsste doch ganz nach Hubsis Geschmack sein! Aber wenn ich ihm den nun bestellte und als Geschenk liefern ließe, würde Henni wahrscheinlich denken, dass Hubsi seine Gene unerlaubt in der Nachbarschaft verteilt hat. Den Ärger mag ich mir gar nicht ausdenken. Henni, das tue ich Dir nicht an, auf gar keinen Fall!

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Mauro und Gianna

    JA, zu einem aufregenden Leben mit der Fähigkeit jede unnötige Aufregung zu vermeiden 😀

Schreibe einen Kommentar