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Einstellungssache

Es ist früh am Morgen, ich lasse mich schwer auf meinen Stuhl plumpsen. Kurz vor der Landung meines Allerwertesten auf der Sitzfläche registriere ich: Da stimmt was nicht.

Es ist noch zu früh, um über solche Sachen nachzudenken. Ich ignoriere also, was ich sah, und starte in meinen Arbeitstag. Schon bald tippsle ich konzentriert vor mich hin, schiebe die Maus über den Tisch, kopiere Zahlen und Buchstaben mit den Tastenkombinationen Strg C und Strg V von Maske zu Maske, schreibe Mails, unterhalte mich online mit Kolleginnen und Kollegen – und werde langsam wacher. Zwischendurch trinke ich fleißig Tee. Mein Gehirn will gut geflutet sein!

Gitti meldet sich. Sie fragt, ob ich mehr Tee trinken möchte. Ja, will ich! Sie setzt Wasser auf, und nach einer Weile hole ich das frisch zubereitete Getränk in der Küche ab. Jetzt kann es weitergehen. Du weißt schon: Tippseln, die Maus herumschieben, Strg C, Strg V und mit Leuten reden …

Wieder bemerke ich beim Hinsetzen, dass da etwas nicht stimmt. Jetzt nicht, keine Zeit!

So geht das ein paar Tage. Dann endlich bin ich geneigt, dem störenden Gefühl von da-stimmt-was-nicht einmal nachzugehen. Ich entdecke einen Riss. Rechts vorne, kurz vor der Stelle, auf der mein Oberschenkel auf dem Bürostuhl aufzuliegen pflegt. Wie kann das sein? Nach nur dreißig Jahren, die mein geliebter Stuhl erst auf dem Buckel hat?!? Ich bin empört!

Meine Kopfhörer klingeln. Ich nehme das Gespräch an, arbeite weiter und verdränge, was ich sah.

Einige Tage später gebe ich die Haltung, dass nicht sein kann, was nicht sein darf, auf. Ich suche nach einem schönen, dünnen Kissen. Stolz platziere ich das Kissen auf der Sitzfläche, beschließe, dass der Stuhl so noch viel schöner aussieht und nehme Platz. Beim Tippseln, Mausschieben, Strg C, Strg V und mit Leuten reden, bemerke ich, dass ich etwas verkrampfter sitze als sonst. So dick ist das Kissen nun auch wieder nicht, man kann sich auch anstellen!

Drei Tage später versuche ich, die Sitzposition zu optimieren. Am Stuhl gibt es schließlich einen Haufen Hebel und Knöpfe, die genau dafür gemacht wurden. Wieso sollte ich ausgerechnet jetzt den guten Freund ersetzen, also meinen heiß geliebten Stuhl, der mich schon so lange begleitet?

Weiter vergeht die Zeit, und irgendwann bin ich dann doch bereit für eine Veränderung. Es ist Samstag. Beim morgendlichen Kaffee frage ich Gitti, ob sie mich begleiten mag, einen neuen Bürostuhl zu erstehen. Sie will, wie schön!

Wir fahren zum Büromöbelhändler unseres Vertrauens. In dem Laden haben wir vor vielen Jahren unsere Schreibtische gekauft. Vor Ort angekommen, beeindruckt mich die schier unfassbare Menge an Bürostühlen, die dicht gedrängt beieinanderstehen. Na, das kann ja was werden! Gitti sieht um die Nase herum auch schon ganz blass aus. Da müssen wir jetzt durch.

Ein freundlicher Verkäufer entdeckt uns und stellt ein paar Fragen. Zum Glück kann ich ihm spontan sagen, was mir wichtig ist: Der Stuhl soll ein Untergestell mit fünf Rollen haben, in alle möglichen Richtungen verstellbar sein, ich lege Wert auf Armlehnen. Selbstverständlich soll das ganze Ding sehr ergonomisch und rückenschonend sein. Der Verkäufer fragt, wie oft und lange ich darauf zu sitzen plane. Als ich „Homeoffice“ sage und mit einem nachgeschobenen „100%“ der Aussage noch mehr Gewicht verleihe, hellt sich seine Miene deutlich auf. Vermutlich habe ich damit soeben eine ganze Preiskategorie übersprungen. Egal. Ich möchte, dass die Rückenlehne nachgibt, wenn ich mich nach hinten lehne. Überhaupt möchte ich mich bewegen können und dabei sanft unterstützt werden. Und ich gucke der Vorsicht halber mal so, dass er mir glaubt, dass ich weiß, dass das geht!

Der gute Mann zieht sich in die Tiefen der Ausstellungsfläche zurück. Nach einer kurzen Weile wartet er mit zwei Stühlen auf. Gitti lässt sich sofort auf den einen fallen, von dem er versehentlich die Hände nahm, um mir mit einer einladenden großen Geste den Platz auf dem anderen Stuhl anzubieten. Ich setze mich. Wir verstellen fleißig, was man so verstellen kann. Ich weiß ja schon, welchen Winkel Ober- und Unterschenkel miteinander bilden sollen, wenn ich die Füße platt auf den Boden stelle. Dafür ernte ich einen anerkennenden Blick. Vom Überschlagen der Beine hält er natürlich nichts. Immerhin geben wir alle bereitwillig zu, dass man sowas halt immer mal wieder tut.

Es gibt in dem Laden auch einen Schreibtisch. Ich rolle hin und simuliere meine Arbeitshaltung. Der Verkäufer optimiert die Einstellungen am Stuhl. Ich bemerke einen gewissen Druck am Oberschenkel. Auch hier kann er mir unter Zuhilfenahme diverser Hebel und Knöpfe eine bequeme Position verschaffen. Gitti dreht sich derweil auf ihrem Stuhl und schaukelt ein wenig. Ihre Sitzfläche folgt ihr bereitwillig. Als sie vorne an einem kleinen Hebel zieht, geht es schnell abwärts. Ups.

Eigentlich bin ich schon recht zufrieden, aber dann fällt mir auf, dass es durch die netzartige Rückenlehne zieht. Ich sage vorwurfsvoll: „Frauen frieren immer!“, und warte auf des Verkäufers Reaktion. Er braucht ein wenig, aber dann erwidert er, dass er selbst meist das andere Problem hat. Zur Untermalung fächert er sich mit beiden Händen Luft zu. Verstehe. Und jetzt?

Der Mann entschwindet. Gitti und ich wechseln die Plätze.

Ein weiterer Stuhl wird herangerollt. Die Rückenlehne unterstützt mich von unten bis oben, sogar im Bereich der Schulterblätter. Durch diese Lehne weht kein Lüftchen. Die Einstellorgie beginnt von vorne. Wohin ich auch mein Gewicht verlagere, der Stuhl folgt mir und hält mich sicher, als ob er mich in seinen Armen wiegte. Ich spüre: Das hier wird er sein. Mein Neuer!

Gitti ist froh, dass ich endlich auf der Zielgeraden bin. Sie hat schon mächtig Hunger, und so besonders gemütlich ist es in diesem Büromöbelmarkt ja nun auch wieder nicht. Also bringen wir es zu einem guten Ende.

Auf der Rückfahrt holen wir im Lager um die Ecke noch schnell ein fabrikneues Exemplar des Stuhls ab. Die Rückenlehne kann ich zu Hause einfach aufstecken, der Rest ist bereits montiert. Das Unterteil rollt fröhlich bei jeder Kurve durch den Kofferraum. Hätte ich die Verpackung doch mitnehmen sollen? Nur deshalb? Blödsinn!

Zu Hause brauche ich noch ein paar Tage, bis ich die optimalen Einstellungen für den Rückenlehnengegendruck, die Länge der Sitzfläche, die Rückenlehnenhöhe, die Position der Armlehnen und all den anderen Quatsch gefunden habe. Aber seither liebe ich es, regen Gebrauch vom dynamischen Haltungswechsel zu machen und dabei von der sogenannten Synchro-3D-Balance zu profitieren. Und die verhindert vermutlich in erster Linie, dass ich ganz wenig elegant einfach nur vom Stuhl falle!

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