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Es bleibt im Nebel

Wenn sich Mythen um etwas oder jemanden ranken, bleibt unklar, was tatsächlich wahr ist.

Ursprünglich dienten Mythen dazu, natürliche oder auch soziale Phänomene zu erklären. Selbstverständlich erhebt jeder Mythos den Anspruch auf eine Wahrheit, die absolut und auf keinen Fall zu hinterfragen ist.

Tja, und das passt so gar nicht mehr in unsere Zeit – oder etwa doch?

Mythen haben durchaus ein paar sehr praktische Eigenschaften. Sie müssen nicht bewiesen werden. Man kann sie nutzen, um ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln oder um Sehnsüchte, aber auch Ängste zu nähren. Etwas weiter gefasst erzählt ein Mythos vielleicht auch von einer Begebenheit oder einer Person, deren Bedeutung so groß ist, dass man ihr einen ganz hohen symbolischen Wert zumisst. Um diesen Wert noch einmal besonders zu betonen, bedienen sich solche Mythen gerne auch einer Überhöhung.

Wenn die Überhöhung eine für meinen Geschmack zu große Rolle spielt, weckt sie mein Misstrauen. Sobald ich fürchte, einer Lügengeschichte aufsitzen zu sollen, halte ich sicherheitshalber gleich die ganze Erzählung für einen Mythos. Entweder beginne ich sofort damit, alles zu hinterfragen oder ich weise einfach den Wahrheitsanspruch der mir erzählten Geschichte mit großer Geste und noch größerer Empörung zurück.

Weil nicht immer klar ist, was nun wirklich an der Sache dran ist, behält der Mythos seinen Reiz. Unklar liegt die Wahrheit im Nebel. Kühl und feucht kriecht dieser Nebel sodann in meine Kleider, lässt mich frösteln und zweifeln.

Heute liegt tiefer Nebel über unserer Stadt. Es will einfach nicht hell werden. Gitti und ich schälen uns dennoch aus dem Bett. Wir bringen uns mühsam in einen einigermaßen ansehnlichen Zustand. Dann verlassen wir das Haus und fahren zum Forggensee.

Unsere Fahrt dauert etwa zwei Stunden. Der See liegt still und grau vor uns. Für einen ganz kleinen Moment kämpft sich ein Sonnenstrahl durch den Nebel, der an den Bergen hängengeblieben ist. Das Wasser leuchtet kurz in fast unnatürlich türkisblauer Farbe auf. Die Nebeldecke schließt sich, und dann liegt alles wieder in tristem Grau vor uns.

Am gegenüberliegenden Seeufer präsentiert sich in ungetrübter Luft ein dicht bewachsener Streifen. Dahinter erheben sich die Berge. Sie ragen steil empor und werden vom Nebel geheimnisvoll umwabert. Mitten hindurch schimmert die weiße Fassade des Schlosses Neuschwanstein.

Gitti und ich lassen diese imposante Kulisse auf uns wirken. Die Stelle, an der wir jetzt stehen, gehört zu einer künstlich aufgeschütteten Halbinsel. Das Seeufer ziert ein romantischer Barockgarten. Hinter uns steht stolz das Festspielhaus, und vor uns blicken wir auf den grauen See und das weiße Schloss.

Ein Schild weist uns den Weg zu einem Foodtruck. Er steht seitlich neben dem Festspielhaus und gehört zu einem kleinen Biergarten. Das Schild verspricht uns „Die heilige Wurst“. Gitti signalisiert Appetit, und so entdecken wir die bemerkenswert gut gewürzte Bratwurst, die diesen Appetit wunderbar zu stillen weiß.

Im Festspielhaus erwartet uns wenig später ein Musical. Es widmet sich Ludwig II, um den sich bekanntlich viele Mythen ranken. Beleuchtet werden darin sein Leben, seine tragische und zugleich mystische Geschichte, die ihn einst zum Märchenkönig machte. Das Musical erzählt von Ludwigs tiefen Krisen, von seiner Zerrissenheit und den großen politischen und psychischen Herausforderungen, an denen er vermutlich zerbrach. Wir lassen uns in eine vordergründig kitschige Welt entführen, die dennoch einen durchaus greifbaren Zugang zu der Person ermöglicht, die vielleicht hinter der Figur des Märchenkönigs steckte.

Verstärkt wird die Geschichte durch die riesige drehbare Bühne. Sie misst im Durchmesser 28 m. In diese Drehbühne ist sogar ein großer See integriert, der 90.000 l Wasser fasst. Die Möglichkeiten, die solch eine Bühne bietet, hätte den als Technik-affin bekannten Märchenkönig sicher begeistert. Das Ensemble spielt ganz wunderbar damit, und als Zuschauer lassen wir uns bereitwillig mitreißen.

Gitti und ich staunen über die wirklich klug erzählte Geschichte, deren Elemente uns auf dem Hintergrund der aktuellen Geschehnisse in der Welt aktueller denn je erscheinen. Vieles bleibt natürlich ungeklärt, und jede Menge Fragen werden wohl auf ewig offen sein. Sie werden immer wieder die Fantasie der Menschen beflügeln, Raum für Spekulationen bieten und vielleicht sogar im Laufe der Zeit neue Mythen hervorbringen.

Für unsere Heimfahrt haben Gitti und ich jedenfalls ganz viel Diskussionsstoff. Spät am Abend, aber voller Energie kehren wir zurück nach Hause. Wir sind beide echt froh darüber, dass sich um uns keine Mythen ranken. Der Rest bleibt im Nebel, und da ist er auch gut aufgehoben!

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