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Ganz leise

Es fängt mit einem kleinen Kratzen im Hals und einem kleinen Husten an. Meine Stimme wird tiefer. Mit jedem Wort, das ich ausspreche. Noch tiefer. Die üblichen Hausmittelchen schlagen nicht an, diese Chance habe ich vielleicht schon verpasst. Mist!

Na, dann muss ich da halt jetzt durch! Ich seufze tief. Dann setzte ich mich extra gerade hin und mache weiter. Eine aufrechte Haltung verrät viel über die Absicht, ganz aufrecht alles zu ignorieren – oder zumindest alles ganz aufrecht durchzustehen. Einige Stunden später verabschiedet sich meine Stimme vollständig. Ich bin beleidigt!

Nun gut, also schone ich mich ein bisschen. Die meiste Zeit verbringe ich damit, zu husten. Gitti gefällt das Konzert gar nicht. Sie versucht mich aufzumuntern. Wie lieb!

Schnell stelle ich fest, dass Gitti und ich normalerweise sehr viel miteinander reden. Das geht aber gerade nicht. Und ich vermisse diese Gespräche jetzt schon so sehr, als wären seit unserem letzten angeregten Gespräch bereits Wochen vergangen. Das ist natürlich Blödsinn, aber mein Gefühl interessiert sich im Moment nicht für realistische Zeiteinschätzungen.

Ich füge mich, strenge mich also an, einigermaßen klar verständliche Grimassen zu schneiden, und Gitti übt sich im Lippenlesen. Meine beste Freundin ruft an und lässt ausrichten, dass Flüstern ganz schlecht für Stimmbänder und Kehlkopf ist. Sie rät zu Stift und Zettel. Oder WhatsApp.

Ich komme mir blöd vor, als ich Textnachrichten von meinem Schoß aus über das ganze Mobilfunknetz in die Welt puste, nur damit sie möglichst bald auf Gittis Schoß ankommen. Gitti sitzt ja direkt neben mir. Was soll der Quatsch?!? Ich setze mich versuchsweise in ein anderes Zimmer, aber mein Gefühl ändert sich dadurch nicht. Gitti holt mich wieder ab. Dankbar sitze ich jetzt wieder neben ihr … und huste ein bisschen.

Erschöpft schlafe ich für ein paar Minuten ein, dann huste ich weiter. Ein kleiner Sprachtest ergibt nur ein quietschendes Geräusch. Gitti versucht, von offenen Fragen auf solche Fragen umzustellen, die ich mit Nicken oder Kopfschütteln beantworten kann. Mir sind offene Fragen lieber. Solche Fragen zielen auf frei formulierte Antworten aller Art. Aber das Antworten ist unter diesen Bedingungen echt mühsam. Wie gerne würde ich mit Gitti jetzt über den Artikel diskutieren, den sie mir gerade vorgelesen hat. Keine Chance!

Wieso ist ein Husten eigentlich immer so laut, dass niemand dabei in Ruhe schlafen kann?

„Egal, richte den Blick nach vorne!“, ermahne ich mich lautlos.

Seit Wochen freue ich mich auf eine ganz besondere Veranstaltung, in der moderner Tanz aufgeführt werden wird. Daraus wird für mich heute nichts. Gitti muss ohne mich hin. Immerhin nicht ganz alleine, denn wir haben uns dort verabredet. Ich wünsche mir, dass sie später alles erzählt, was ich verpasst habe. Gitti dämpft meine Erwartungen mit einem trockenen: „Aber ich tanze nachher nicht alles nach!“ Mit den Lippen forme ich ein „Oh, wie schade!“ Dabei gucke ich so traurig, wie ich eben kann. Gitti grinst, und auch auf meinem Gesicht breitet sich ein Lächeln aus. Vielleicht tanzt sie ja später doch noch ein bisschen für mich.

Gitti entschwindet, sich umzukleiden. Kurz bevor sie das Haus verlässt, zeige ich ihr noch einen Zettel. Darauf habe ich geschrieben: Viel Vergnügen. Hier zu Hause verpasst Du heute nur die Sonate in G-Dur, Nummer 9, Röchelverzeichnis.

Später am Abend höre ich mir im Netz nochmal die Mozart-Version für Violine und Klavier aus dem Köchelverzeichnis an. Zuerst kommt das Allegro spiritoso, dann folgt ein Andante und zum Schluss gibt es noch zwei Menuette. Wie schön!

Meinen Gedanken lasse ich den restlichen Abend über freien Lauf. Ich verbringe von außen betrachtet eine ganz leise Zeit. Aber in meinem Kopf geht es turbulent und voller Musik zu. Das tut mir gut.

Irgendwann werde ich müde. Es ist Mitte Mai. Dennoch erinnere ich mich gerade an Kindertage. Und an Sankt Martin. Tagelang haben wir damals schöne Laternen gebastelt. Mit schwarzem Karton und bunten, transparenten Papieren, durch die das Kerzenlicht aus der Laterne nach draußen dringen konnte. Ja, Kerzenlicht! In den ersten Jahren klebten wir tatsächlich noch echte Kerzen in die Laternen. Später kamen dann die Dinger mit den elektrischen Lämpchen in Mode. Sie waren weniger gefährlich, aber auch ein bisschen weniger stimmungsvoll.

Wir Kinder zogen los. Erst zum Umzug mit Reitershow und Mantelteilen, dann zum Gripschen. Mit Laterne und Tüte bewaffnet klingelten wir am Abend an fremden Haustüren. Den armen Bewohnern sangen wir Lieder vor, und dafür bekamen wir Süßigkeiten geschenkt. Vielleicht auch dafür, dass wir endlich mit dem schiefen Gesang aufhörten. Wer weiß das schon? In mehrstöckigen Mietshäusern hallten die Lieder besonders lange nach. Solch ein Treppenhaus hat schon eine ganz eigene Akustik. Die Erinnerung daran geht mit einer Gänsehaut einher, die mir spontan über beide Arme kriecht.

Ich denke über den Text unseres Lieblingsliedes nach. Er beginnt mit: „Ich geh‘ mit meiner Laterne und meine Laterne mit mir.“ Na, da fühlt man sich doch gleich nicht so alleine! Weiter ging es mit: „Dort oben leuchten die Sterne, hier unten leuchten wir.“ Also am Schluss eher wie „leu-heuch-ten wir“ intoniert. Und dann musste es schnell gehen: „Mein Licht geht aus, wir geh’n nach Haus.“ Und zum Abschluss: „Rabimmel, rabammel, rabumm!“ Zur Bekräftigung dann noch einmal: „Mein Licht geht aus, wir geh’n nach Haus. Rabimmel, rabammel, rabumm!“

Rabimmel? Rabammel?? Rabumm?!? Wer denkt sich bloß so etwas aus?

Kopfschüttelnd sitze ich da und lächle so vor mich hin. Und gehustet habe ich auch schon eine ganze Weile lang nicht mehr. Es geht definitiv in die richtige Richtung!! Ganz leise – aber nur von außen betrachtet.

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