Papiere sind lästig, aber man braucht sie. Gedanklich lege ich alle wichtigen Papiere einmal auf einen Haufen. Dabei geht es mir gar nicht darum, ob ich den Haufen nun zu groß oder zu klein finde. Ich mache mir nur gerade Gedanken darüber, um welchen Teil dieser Papiere ich mich ab und zu aktiv kümmern muss.
Es gibt Papiere, die mich als Person identifizieren. Mir fallen Papiere ein, die mir bescheinigen, dass ich merkwürdige Dinge gelernt und Prüfungen abgelegt habe. Daneben gibt es welche, die Zeugnis über meine Arbeit ablegen. Ein anderer Teil zeugt von unterschiedlichsten Verträgen, die ich im Laufe der Zeit abschloss. Mir fallen immer mehr Themen ein, die mit wichtigen Papieren einhergehen.
Zum Glück muss ich nicht immer und überall alles zur Hand haben! Welch eine Schlepperei würde sich daraus ergeben! Im Winter könnte ich vielleicht noch alles ins Futter eines sehr, sehr geräumigen Mantels einnähen und mich damit außer Haus bewegen. Jedoch verlöre ich mich ganz bestimmt darin. Sofort tanzen Bilder durch meinen Kopf. Ich sehe meinen Mantel, und oben guckt mein kleiner Kopf heraus, der im Verhältnis zur Größe des Mantels dem einer Stecknadel gleicht. Rot angelaufen ist er, denn ich trage in meiner Vorstellung schwer an dem Mantel mit seinem Futter und all dem eingenähten Papier. Und im Sommer?!? Mir bleibt schier die Luft weg. Auf meiner Stirn bilden sich Perlen von Schweiß. Was fühle ich mich auch wieder in solch ein Thema ein, das musste ja schiefgehen!
Zurück zum eigentlichen Thema. Die kleine Bestandsaufnahme ergibt: Mein Reisepass ist abgelaufen. Der Personalausweis läuft bald ab. Und der Führerschein war die längste Zeit unendlich lange haltbar. 1981 hatte der noch kein Verfallsdatum! Jetzt aber muss ich ihn plötzlich ersetzen und mich in spätestens fünfzehn Jahren schon wieder darum kümmern. Ich bin beleidigt.
Auf dem alten grauen Lappen prangt eine Fotografie aus früheren Tagen. Da buchstabierte man die Fotografie noch so: Photographie. Und die ist schwarzweiß! Man sieht recht viel von der abgebildeten Person, das Bild geht nämlich fast bis zur Brust. Um den Kopf herum ist noch jede Menge Platz für den dunkelgrauen Hintergrund, vor dem es damals aufgenommen wurde. Den Kopf leicht zur Seite geneigt, sitze ich da, ein bisschen schräg von der Seite her aufgenommen. Das ist alles in keinster Weise biometrisch, aber es hat Charme!! Und diese Frisur, das glaubt mir keiner!
Der Lappen, wie er im Volksmund hieß, ist also grau. Er fühlt sich etwas ledrig an. 14,7 cm hoch und im aufgeklappten Zustand 20.7 cm breit, trägt er spärliche, aber ausreichende Informationen. Die aufgedruckte Adresse ist längst nicht mehr gültig. Im Innenteil steht im Wesentlichen, dass Herr Frau Fräulein soundso die Erlaubnis erhält, ein Kraftfahrzeug mit Antrieb durch Verbrennungsmaschine der Klasse drei zu führen. Die Klassen ein, zwei, vier und fünf sind einfach mit schwarzem Kugelschreiber durchgestrichen worden, weil ich dazu eben keine Prüfung abgelegt habe. Ansonsten gibt es noch den Hinweis auf die ausstellende Behörde, einen amtlichen Stempel nebst amtlicher Unterschrift, außerdem noch meine eigene Unterschrift – und die hat sich im Laufe der Jahre ebenso stark verändert, wie mein Erscheinungsbild.
Ich recherchiere, was zu tun ist. Für alle Ausweise benötige ich ein aktuelles biometrisches Bild. Der erste Weg führt also zum Fotografen. Das Foto bekomme ich sofort mit, die zugehörige Datei erreicht mich per Mail bereits auf dem Weg nach Hause. Auf das Bild im alten Führerschein musste ich damals zwei Wochen warten. Es gab einen Abholschein mit einer Nummer, den ich hüten musste, bis die zwei Wochen um waren, die das Photo-Atelier veranschlagte, um das Bild zu entwickeln. Ohne diesen Schein hätte man mir mein Bild niemals ausgehändigt, schließlich musste alles seine Ordnung haben!
Im Internet logge ich mich bei der Behörde ein, die damals meinen Führerschein ausgestellt hat. Es gilt, dort eine Karteikartenabschrift zu beantragen und der hiesigen Behörde zustellen zu lassen. Das geht online, wie schön! Bei der Behörde, die hier für mich zuständig ist, kann ich auch schon etwas online erreichen: Ich kann einen passenden Antrag ausfüllen und zum Ausdrucken herunterladen.
Jetzt begebe ich mich zur Führerscheinstelle. Es ist kurz vor Weihnachten. Außer mir sind nur zwei Menschen anwesend, und die arbeiten jenseits der Theke, vor der ich nun stehe. Sie haben mich auch schon erspäht. Trotzdem muss ich am eigens dafür aufgestellten Automaten eine Nummer ziehen. Vermutlich zählt das Ding mit, wie viele Menschen hier pro Jahr auflaufen, und es weiß gewiss auszuwerten, wie sich diese Anzahl auf die Themenkomplexe Zulassungen und Führerscheine aufteilt. Ich wähle auf dem Display also das Thema Führerscheine aus und ziehe eine Nummer. Die schon auf mich wartende Dame drückt auf einen verborgenen Knopf. Es ertönt ein Ton. Auf dem großen Display, das am anderen Ende des Raumes unter der Decke hängt, lese ich sogleich, dass ich mich mit meiner Nummer zu Schalter 2 begeben soll, vor dem ich bereits stehe. Ich trage mein Anliegen vor und händige alle notwendigen Unterlagen aus.
Es ertönt wieder ein Ton. Ich lese, was auf dem Display steht und erfahre, dass ich mich zu Schalter 1 begeben soll. Das ist die Kasse. Die freundliche Dame, die meine Unterlagen entgegengenommen hat, ist schnell hintenrum zu Schalter 1 gelaufen. Dort nimmt sie nun die von mir zu erhebenden Gebühren ein. Ohne weiteren Aufruf via Display darf ich nun wieder zu Schalter 2 gehen. Das sagt sie mir einfach persönlich durch den Schlitz in der Scheibe hindurch, durch den soeben bereits das Geld den Besitzer wechselte. Sie geht ebenfalls zurück zu Schalter 2. Ihr Weg ist deutlich länger als meiner, denn sie muss an den ganzen Schreibtischfluchten vorbei, die die beiden Schalter hinter der Theke voneinander trennen. An Schalter 2 erfahre ich nun, dass ich jetzt gehen kann und in etwa sechs Wochen postalisch zum persönlichen Abholen des neuen Führescheins aufgefordert werde.
Im Januar statte ich unserem Rathaus meinen Besuch ab. Dort will ich sowohl einen neuen Personalausweis als auch einen neuen Reisepass beantragen. Gitti hat vor zehn Jahren, als ich mit den damals taufrisch ausgestellten Dokumenten nach Hause kam, sofort bemerkt, dass mein Geburtsort dort falsch geschrieben wurde. Quierschied hieß in meinen Papieren seither Qierschied. Mich trieb die Sorge um, die Ausweise gleich noch einmal bezahlen zu müssen, also beließ ich es dabei. Jetzt aber rufe ich innerlich: „Gebt mir ein U!“, dann suche ich mein Stammbuch heraus. Darin befindet sich meine Geburtsurkunde, und die belegt, dass der Ort tatsächlich mit U hinter dem Q geschrieben wird.
Im Rathaus steht auch ein Automat, der Nummern ausdruckt. Hier gibt es allerdings nur ein Thema, das man auswählen kann: Bürgeramt. Der Flur ist leer, wieder bin ich die einzige Bürgerin, die gerade ein Anliegen hat. Der Automat druckt die Nummer aus und ich werde ins Zimmer 6 bestellt. Wieder lege ich alles auf den Tisch, was man braucht. Ich bitte darum, mein U in den neuen Papieren wieder zu berücksichtigen. Die freundliche Beamtin möchte meine Geburtsurkunde sehen. In Deutschland gibt es gar keine Orte, die hinter dem Q kein U haben, aber alles muss belegt sein. Ich bin vorbereitet und zeige ihr mein Stammbuch.
„Ah, tatsächlich, da fehlt das U. Aha, in beiden Dokumenten! Ja, das korrigieren wir bei der Gelegenheit doch gerne“, sagt sie. Dann fragt sie, ob sich bei Größe und Augenfarbe etwas geändert hat. Gibt es Leute, die sich eine andere Augenfarbe machen lassen? Ich staune leise vor mich hin. Zu Hause recherchiere ich später, dass man die Augenfarbe tatsächlich operativ in nur einer Stunde verändern lassen kann. Sachen gibt’s!
Vor ein paar Tagen: Per Post erhalte ich die Aufforderung der Führerscheinstelle, das Dokument zeitnah abzuholen. Am selben Tag ruft ein Automat bei uns auf dem Festnetz an und verkündet, ich könne meinen Ausweis abholen.
Ich mache Termine aus. Zwischen unserem Daily und der nächsten Besprechung ist ausreichend Zeit, da will ich meine Behördengänge schnell erledigen. Zuerst fahre ich zum Rathaus. Dort geht alles ganz schnell. Der Reisepass fehlt noch, aber der Personalausweis ist da. Mit U!!! Juhu! Ich bin begeistert. Bei der Führerscheinstelle muss ich warten. Eine neue Mitarbeiterin wird gerade eingearbeitet. Es zieht sich.
Eine Frau kommt herein, sie liest die Auswahlmöglichkeiten auf dem Display, runzelt die Stirn und zückt ihr Mobiltelefon. Dann spricht sie schnell ein paar Sätze mit ganz vielen Ü. Eine Stimme brabbelt aus dem Telefon heraus, dann sagt die Frau: „Zulassungsbehörde, ah!“ Sie legt wortlos auf, lässt eine Nummer heraus und gesellt sich zu den anderen Wartenden.
Mein Zeitfenster schließt sich langsam. Ich muss schon fast im Büro sein, unsere Besprechung beginnt bald. Vor mir ist nur noch ein Herr, es lohnt sich vielleicht doch, das jetzt hier zu erledigen. Ich setze eine Nachricht ab, dass ich mich vermutlich verspäten werde.
Als ich endlich dran bin, stempelt man meinen alten Führerschein als ungültig ab, dann legt man mir das neue Dokument vor. Ich überfliege das kleine Kärtchen. „Das ist falsch, da fehlt ein U!“ Die einzuarbeitende Mitarbeiterin und ihre Mentorin gucken verblüfft auf die Papiere. Auf dem alten Führerschein und dem neuen Personalausweis steht das U einträchtig zwischen Q und I. So soll es ja auch sein! Sie stellen mir einen vorläufigen Führerschein mit U aus und versprechen, mir das korrigierte Dokument mit der Post nach Hause zu schicken. Ich bedanke mich herzlich und enteile gen Büro.
Unterwegs höre ich im Radio ein Stück, bei dem der Leadsänger zuerst dem Publikum zuruft: „Give me an A!“ Ich stimme sofort ein und rufe laut und vergnügt: „Gebt mir mein U!“
Hi Miri, du hast das wieder mal sehr schön dargestellt, vielen Dank.
Du hasgt das mit den Abholscheinen zwischendurch erwähnt – sind die Abholscheine nicht auch wichtige Papiere, die man eine Zeit lang ebenso sorgfältig aufheben und ins Mantelfutter einnähen muss wie die länger gültigen Unterlagen?
Aber eben mit einer kürzeren Lebensdauer als Ausweise und Führerseine?