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Handshakes

Gitti und ich sind im Theater. An diesem Ort kann man echt viel über Menschen und deren Kommunikation lernen! Hier und heute habe ich wieder mal die zweifelhafte Freude, einigen Szenen beizuwohnen, die mich noch eine ganze Weile beschäftigen werden.

Es herrscht Gedränge. In einer knappen halben Stunde soll die Vorstellung beginnen. Vor den Damentoiletten herrscht großer Andrang. In der Nähe der Toiletten gibt es eine Theke. Erschreckend viele der anwesenden Leute sind damit beschäftigt, hier ihre Getränke für die Pause vorzubestellen. Vor der Theke hat sich eine längere Schlange gebildet. Wegen des großen Andrangs ist wohl nicht für alle klar zu erkennen, dass es eine Schlange gibt und wo sie endet. Also stolpern so hier und da schon ganz orientierungslos wirkende Menschen an besagter Schlange vorbei. Sie stellen sich direkt vorne hin. Und sie ernten viele empörte Kommentare.

Die meisten entschuldigen sich schnell, suchen das Ende der Schlange und reihen sich klaglos dort ein. Andere mosern sofort selbst herum, beschimpfen die in der Schlange anstehenden Menschen lauthals und stellen ihr eigenes Bestellvorhaben noch einmal theatral infrage, bevor sie sich endlich unter großem Kopfschütteln wütend entfernen.

Einen weißhaarigen Herrn lyncht die Menge fast, weil er die ihm zugerufenen Hinweise auf die Schlange einfach ignoriert. Vielleicht hat er sie nur nicht gehört? Hinter beiden Ohren hängen Hörhilfen von den Bügeln seiner Sehhilfe herab. Gittis Mutter hat ihr Hörgerät früher auch gerne auch mal ausgeschaltet, wenn die Umgebungsgeräusche zu laut waren und sie nur noch Krach wahrnahm.

Wie ist diese Situation hier im Gewühl zu beurteilen? Ich kann nicht wissen, was der Herr nun hören konnte. Eigentlich ist es mir auch völlig egal, ob er sich nun vorgedrängelt hat oder nicht.

Eine energische ältere Dame sieht das völlig anders. Sie haut ihm beherzt den Griff ihres Gehstocks auf die Schulter. Es folgt eine Tirade der Dame, in der das Wort unverschämt mehrfach vorkommt. Ganz unterschiedlich intoniert. Die aufgedonnerte Begleitung des weißhaarigen Herrn materialisiert sich plötzlich an seiner Seite. Sie brüllt ihm die Frage ins Ohr, ob er nun endlich fertig ist mit der albernen Bestellung, die sie ihm bereits vor einer geschlagenen Viertelstunde auftrug.

Es dauert noch etwa sieben Sekunden bis zu seiner völligen Überforderung. Mit der linken Hand massiert der Herr die Stelle auf der rechten Schulter, wo der Gehstock auf ihn niederging. Von vorne brüllt ihn der Mann an, der hinter der Theke seinen Dienst tut. Seine Begleitung und die Gehstockbesitzerin giften sich quasi durch ihn hindurch gegenseitig an. Und der Druck der Schlange hinter ihm nimmt auch stetig zu.

Neben mir steht ein kleines Mädchen. Die Knie presst es fest zusammen. Die Stellung der Beine des Mädchens ergibt ein formvollendetes X. An seine Mutter gerichtet jammert das Mädchen: „Ich muss mal“, und dafür erntet sie sogleich ein genervtes: „Du musst, wenn alle müssen!“

Wo bin ich hier nur gelandet? Ich dachte, dies sei ein Ort der Kultur! Ein Ort, an dem man einander kultiviert begegnet!

Gitti kommt aus der Tür der Damentoilette. Sie steuert die Theke an. Mich hat sie noch nicht erspäht. Relativ weit vorne fragt Gitti höflich eine Frau, die in der Schlange steht, ob dies die Schlange vor der Theke ist. Die Frau lächelt sie an und nickt eifrig. Gitti versucht, das Ende der Schlange zu erspähen. Da geschieht das Wunder: Die lächelnd nickende Frau fragt, was sie denn möchte. Gitti sagt: „Zwei Gläser Sekt.“ Und sie erhält als Antwort: „Die bestelle ich Ihnen gleich einfach mit!“ Gitti hält ihr einen Geldschein hin. Die fremde Frau bedeutet ihr, dass die Geldangelegenheiten auch später erledigt werden können. Die beiden geben einander verbal die Hand. Sie verabreden, dass Gitti etwas abseits warten möge, auf dass nicht gleich der nächste Eklat drohe.

Welch eine Wohltat!!

Ich schere aus der Schlange aus und biete den hinter mir anstehenden Herrschaften mit einer einladenden Armbewegung meinen Platz in der Schlange an. Dankbar schließen sie auf. Offensichtlich wissen sie nicht, welches Kunststück Gitti dort vorne gelang – und dass meine Geste derart großartig nun auch wieder nicht ist.

Ich geselle mich zu Gitti.

Später auf der Heimfahrt lassen wir den Abend noch einmal Revue passieren. Wir unterhalten uns über die schöne Vorstellung, aber auch über die Szenen, die wir vor der Vorstellung erlebten.

Wenn man in der Automatisierungstechnik etwas steuern will, so tut man oft gut daran, Handshake-Signale auszutauschen. Der Empfänger quittiert dabei dem Sender den Empfang von Daten. Manchmal bestätigt dann der Sender dem Empfänger sogar den Empfang der Quittierung. Das Prinzip ist einfach und sehr erfolgreich. Man schickt nicht nur ein Signal oder einen Befehl los, sondern man bekommt zurückgemeldet, was angekommen ist. Bleibt die Quittierung aus, so weiß man zeitnah, dass etwas schiefgelaufen ist. Vor allem kann man dann adäquat reagieren.

In der Kommunikation mit anderen Menschen hilft die Handshake-Technik auch. Klingt schräg? Vielleicht. Aber genau das nutzen wir, wenn wir aktiv zuhören. Gitti sagt etwas, ich spiegle ihr mit meinen eigenen Worten, was ich verstanden habe, und Gitti kann schnell erkennen, ob ihre Botschaft bei mir so angekommen ist, wie sie gemeint war. Auf diese Weise vermeiden wir, dass unsere schrägen Interpretationen handfeste Probleme nach sich ziehen und können Streitigkeiten schnell auflösen.

Nicht auszudenken, wenn sich die Leute heute im Theater auch ein bisschen mehr Mühe miteinander gegeben hätten! Ich gebe die Hoffnung einfach nicht auf, dass sich der verbale Handschlag auch im realen Leben weiter durchsetzt – und ich werde weiter dafür werben, auch wenn es mich ein bisschen Mühe kostet.

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