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Ich freue mich schon

Mein Kulturbeutel wartet schon sehnsüchtig auf seinen nächsten Einsatz. Ich warte schon sehnsüchtig auf Kulturveranstaltungen, die ich außer Haus genießen darf. Künstler und andere Kulturschaffende warten schon sehnsüchtig darauf, ihr Publikum wieder persönlich sehen, hören und fühlen zu können.

Vorsicht, Falle! Auf der Straße der Sehnsucht gibt es eine Abfahrt, die direkt zur nahe gelegenen Stadt Lamento führt. Glaube mir, das ist die hässlichste Stadt, die Du je gesehen hast. Da willst Du nicht hin! Das ist die Hauptstadt des Klageliedes.

Ich war mal dort. Die Straßen sind so angelegt, dass es dem Fremden schwerfällt, je wieder herauszufinden. In ganz Lamento gibt es kein einziges Restaurant, in dem das Essen lecker schmeckt. Die Atmosphäre ist kalt, mich friert jetzt noch bei dem Gedanken an diesen Ausflug. Der Wind fegt eisig um die Ecken, sogar im Sommer. Alle Gebäude sind trist, kein einziges Grün am Wegesrand, der Himmel niemals blau. Ich bin aus Lamento geflohen.

Manche sagen, wer intensiv genug lamentiert, wer sich ganz dem Schmerz hingibt, der hat eine Chance, damit sein Leid abzuarbeiten. Gut. Wenn ich mir etwas von der Seele reden möchte, dann rede ich mit Gitti oder mit anderen Freunden. Ansonsten höre ich mir einfach selbst zu oder führe imaginäre Gespräche mit Leuten, die Teil meines Problems sind. Dafür gestehe ich mir Zeit und Raum zu, und ich versuche, dabei nicht in der Innenstadt von Lamento zu landen.

Bei meiner Flucht aus Lamento habe ich versucht, mir den Weg zu merken, der mich aus der Stadt führte. Ich kann ihn nicht genau beschreiben. Er kommt mir individuell vor, vielleicht ist er sogar nur auf mich selbst zugeschnitten. Wer weiß, vielleicht ist es aber auch der, auf dem alle herumtrampeln, also ganz gewöhnlich und allseits beliebt.

Soviel kann ich sagen: Ich bringe mich zuerst dazu, meinen Blick nach vorne zu richten. Ohne Angst, ohne mir auszumalen, wie schrecklich alles noch werden kann. Dann geht es los. Ich konzentriere mich mehr und mehr auf die Chancen, die sich auftun könnten. Vielleicht ist es eine Art Flucht nach vorn. Ich suche gezielt nach schönen Aussichten. Manchmal kommen die zunächst recht bescheiden daher. Aber: Irgendwas geht immer! Und dann male ich mir genüsslich aus, wie sich das anfühlt, wenn sich alles zum Guten gewendet hat. Erst danach beschäftige ich mich damit, welchen Weg ich konkret einschlage. Je klarer ich weiß, wie es da sein wird, wo ich hinwill, desto leichter fällt mir ein, in welcher Richtung es jetzt weitergeht. Manchmal führt gerade kein Weg zum eigentlich erträumten Ziel. Das ist aber gar nicht so schlimm, dann mache ich eben einen Umweg über das schöne Buntdorf.

Von überall gut zu erreichen, liegt Buntdorf zum Glück nie weiter als einen Steinwurf vom aktuellen Standort entfernt. Dort herrscht eine tolle Atmosphäre, man kann seinen Blick weit schweifen lassen. Buntdorf verfügt über hervorragende Restaurants. Das Kulturprogramm ist atemberaubend. Die Leute sind so fröhlich und freundlich, als ob sie gerade auf Dich oder mich gewartet hätten. Ich freue mich schon auf meinen nächsten Besuch in Buntdorf!

Das ist überhaupt das Beste: Ich freue mich schon!!

Komm mit! Ich hole jetzt meinen Kulturbeutel. Ganz schön staubig geworden… Egal, ein kleiner Wisch und schon erstrahlt er wie neu. In meinem Kulturbeutel wohnt eine kleine Tüte mit der Aufschrift „Zuversicht“. Hier sammle ich Papierschnipsel. Jeder Schnipsel steht für etwas, das ich schön oder gut gefunden habe. Und wenn ich an gestern oder vorhin denke und mir fällt etwas ein, dass gut oder schön war, dann kommt es als Papierschnipsel in diese Tüte. Es kann ganz klein sein, vielleicht nur ein Lächeln, das mich überrascht hat. Wenn es mir mal nicht so gut geht, kippe ich diese Tüte aus und gucke mir die Schnipsel an. Ich tanke Zuversicht. Denn: Wenn ich mal so etwas erlebt habe, wie das, von dem die Schnipsel künden, dann werde ich auch wieder etwas erleben, das gut oder schön ist. Etwas anderes, aber auf jeden Fall etwas, das hier in die Tüte kommt.

Mittlerweile habe ich das für mich perfektioniert: die Tüte existiert nur noch gedanklich, wirkt aber immer noch Wunder. Und wenn ich dann versehentlich wehmütig nach Lamento abgebogen bin, nehme ich einfach den nächsten Abzweig nach Buntdorf!

Heute freue ich mich schon auf unser Pandemie-Picknick. Draußen hat es geschneit, es ist kalt, die Feuchtigkeit kriecht in meine Knochen, wenn ich nur rausgucke. Das ist Trübsal-Wetter, aber Gitti und ich haben keine Lust auf Trübsal. Also beschließen wir, im Wohnzimmer ein Picknick zu veranstalten. Gitti dreht die Heizung hoch. Wir schieben den Tisch zur Seite und breiten eine Decke aus. Gitti guckt kritisch: „Können wir nicht wenigstens auf Stühlen sitzen?“ Ja, können wir. Wir dekorieren um. Jetzt ist mir heiß, die Heizung bullert. Auf Gittis Stirn bildet sich die erste Schweißperle. Wir ziehen uns in die Küche zurück und bereiten ein Tomatencarpaccio vor. Gitti grillt Avocado-Hälften und füllt sie anschließend mit Flusskrebsschwanzsalat. Im Kühlschrank finden wir noch etwas Feldsalat und Toastbrot. Schnell zaubern wir eine fruchtige Vinaigrette für den Feldsalat und entscheiden uns für einen leichten Weißwein. Gedeckt wird im Wohnzimmer, dort herrschen zwischenzeitlich fast tropische Temperaturen.

Gitti und ich ziehen uns um: kurze Hosen, leichte Shirts, Sonnenhüte. Auf dem Weg zurück ins bullig warme Wohnzimmer friere ich mächtig. Hinter meinem Rücken versteckt habe ich Pullover und Jeans geschmuggelt, die brauchen wir später bestimmt, wenn wir mit dem Picknick fertig sind. Gitti hat schon eine Playlist mit Sommerhits zusammengestellt, den salzigen Duft von Meeresluft stellen wir uns ganz intensiv vor. „Soll ich den Ventilator anstellen?“ „Nein, geht schon so!“ „Na dann: Prost und guten Appetit!“

Dieser Beitrag hat 4 Kommentare

  1. Tom

    Ich habe auch einige Kolleginnen und Kollegen, die offenbar fest in Lamento leben. Mit denen kann ich mich nur in kleinen Portionen abgeben, sonst ist man bevor man es sich versieht mitten in Lamento.

    Da treffe ich mich lieber auf ein Treffen mit Euch in Buntdorf oder im realen Leben – weit weg von Lamento. Das wird ganz bestimmt bald wieder möglich sein, bis dahin passt auf euch auf und macht es gut, viele liebe Grüße.

    1. Miriam

      Au ja, ich freue mich schon. Liebe Grüße!

  2. Mauro und Gianna

    Eine großartige Geschichte liebe Miriam!
    Danke dafür! Du hast uns auf diese Reise voll mitgenommen! Schön das es Dich und Gitti gibt!
    Wir freuen uns auf Euch, auf die gemeinsame Zeit und auf die Kulturveranstaltungen die wir ganz sicher wieder gemeinsam besuchen werden!

    1. Miriam

      Vielen Dank! Wir freuen uns auch schon darauf!

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