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Im Sommer ist schlecht

Gitti und ich kennen uns jetzt schon viele Jahre. Meine Wohnung suche ich fast nur noch zum Wäsche waschen, Post abholen und putzen auf, nur selten sind wir zusammen hier. Wir entschließen uns, ein gemeinsames Domizil zu suchen.

Wir haben viele Randbedingungen formuliert, das macht es nicht einfacher. Es sollen große Räume sein, denn wir möchten spontan aufspringen und loslaufen können, ohne sofort irgendwo anzuecken. Unsere Begegnungsstätte, also die große Küche, wollen wir nicht aufgeben, die muss unbedingt mit. Wir brauchen zwei Arbeitszimmer. Alle vier Sofas sollen in einem Wohnzimmer stehen. Das Freiheitsgefühl verlangt nach einem Garten oder zumindest einem großen Balkon. Die Verkehrsanbindung sollte gut sein, wir möchten auch mal mit der Bahn in die Stadt fahren, und zwar, ohne vorher noch ein Stück mit dem Auto fahren zu müssen. Ideal wäre eine fußläufig erreichbare Autowerkstatt. Einkaufen ohne Auto sollte auch machbar sein. Ein gutes Restaurant in der Nähe wäre die Krönung. Unser Budget kann gegenüber den aktuell aufgebrachten Mietkosten nur in geringem Maße aufgestockt werden. Nicht möglich? Naiv? Doch keine Lust auf ein gemeinsames Domizil? Geduld, es muss gehen!

Es dauert etwa ein Jahr und kostet neben Geduld auch Nerven, aber es gelingt. Wir finden ein Haus, das alle Randbedingungen erfüllt. Wir werden die beiden oberen Etagen, den Keller und den Garten zur Verfügung haben. Im Erdgeschoss befindet sich die Praxis eines praktischen Arztes, wie praktisch. Der Eingang zur Praxis ist separat, also werden die Patienten nicht durch unser Treppenhaus geistern. Wir machen uns mit dem Hausarzt bekannt. Er ist ein bisschen schüchtern und zurückhaltend. Wir regen an, dass wir uns ja mal auf ein Gläschen Wein zusammensetzen können. Er wirkt freudig überrascht und schlägt vor, dass wir das machen, sobald es draußen wärmer ist. Wir organisieren unsere Umzüge, wir entrümpeln, wir freuen uns auf das neue Zuhause.

Als erstes müssen die Küche und das Wasserbett umziehen. Die Küche hat einen deutlich anderen Grundriss als die bisherige. Wir planen und optimieren die Anordnung der Ober- und Unterschränke. In der neuen Küche gibt es mehr Fenster und weniger Platz für Oberschränke, dafür können wir mehr Arbeitsflächen schaffen. Einen Teil der Oberschränke werden wir einfach auf den Kopf stellen und so zu Unterschränken machen. Der große runde Tisch und die Stühle finden einen schönen Platz, die neue Begegnungsstätte wird toll. Für den Schreiner, der die Küche bei Gitti ab- und dann im neuen Zuhause wieder aufbauen soll machen wir einen detaillierten Entwurf. Wir kleben Zahlen auf die Oberschränke und Buchstaben auf die Unterschränke und zeichnen einen Plan, auf dem er anhand der Zahlen und Buchstaben die neue Anordnung erkennen kann. Er ist begeistert.

So ein Wasserbett kann man ja nicht verschieben, also beschließen wir, die Wand hinter dem Kopfende in Terrakotta zu streichen. Bei OBI erstehen wir Farbe. Ich streiche. „Creative Look“ steht für „die Farbe deckt nicht“. Neuer Eimer, neues Glück. Am Abend trage ich die Farbe auf die Wand auf, übermorgen kommt das Bett, und dann muss alles trocken sein. Am nächsten Morgen betrachte ich mein Werk bei Tageslicht. Grelles OBI-Orange. Auwei, das geht gar nicht! Na dann, neuer Versuch, neuer Eimer, neue Farbe. Diesmal klappt es, jetzt ist es optimal.

Der Schreiner, der die Küche umzieht, ruiniert derweil im Wohnzimmer Teile des Parketts. Er hat dort Küchenschränke zwischengelagert und deutliche Kratzer hinterlassen.

Am Freitag findet der erste Teil des Umzugs statt, zuerst ist mein Haushalt dran. Es hat geschneit, die Straßenverhältnisse sind extrem schlecht. Ich versorge die Möbelpacker mit Brezeln. Im neuen Domizil bekommen sie dann ein warmes Mahl. Der Keller des Hauses beherbergt eine kleine Fischerbar mit gemütlicher Eckbank, wo alle einen Platz finden und speisen können. Die Begegnungsstätte im ersten Stock ist noch nicht in Betrieb. Eine Freundin bringt Chili Con Carne vorbei, die Männer freuen sich.

Abends reisen unsere Schwägerinnen und zwei weitere Freundinnen an, sie wollen beim nächsten Teil des Umzugs helfen, bei dem Gittis Haushalt transferiert wird. Am Samstag teilen wir uns auf, Gitti und die Schwägerinnen betreuen das Ausräumen des Hauses, die Freundinnen und ich bereiten im neuen Zuhause Salat, eine große Pfanne mit Gemüse und Frikadellen für alle zu. Nach dem Essen dürfen die Männer ausladen und Gitti weist ihnen am Eingang den richtigen Weg. Wir haben alle Zimmer getauft, alle Möbel und alle Kartons sind mit den Namen der Zimmer beschriftet. Wir hoffen, dass möglichst viele Dinge gleich am richtigen Ort landen. Es ist eisig kalt, Gitti zittert an der Haustür, ich bringe ihr einen wärmenden Kaffee.

Am Abend sitzen die Freundinnen, die Schwägerinnen und wir in der Fischerbar und feiern. In der Ecke über der Eckbank hängt ein kleines Häuschen, darin die Jungfrau Maria mit Kind im Arm, flankiert von einer kleinen elektrischen Kerze, die schwach und züngelnd leuchtet. Auf die rückseitige Wand hat jemand ein geöffnetes Fenster gemalt, mit Ausblick auf Tübingen und den Turm, in dem Hölderlin verrückt geworden ist. Über der Fischerbar hängt ein Netz mit Kaimanen und anderem Getier. Das Arrangement haben wir mit gemietet, unsere Freundinnen taufen die Ecke feierlich auf „Chèz Marie“. Die Ausstattung ist derartig kitschig, dass es schon wieder toll ist. Wir werden hier noch so manches Fest feiern.

Wir leben uns schnell ein und genießen den gemeinsamen Hausstand. Draußen wird es warm, der Sommer ist da. Gitti trifft den Hausarzt. Ein paar seiner älteren Patientinnen haben herausgefunden, dass er auch Hausbesuche macht. Er erzählt, dass er soeben dreimal hintereinander zu Mittag essen musste. Jetzt spannt der Ranzen, er überlegt, ob er den Kittel überhaupt noch zuknöpfen kann. Gitti fragt, ob er nächste Woche auf ein Gläschen Wein zu uns kommen mag. Er sagt: „Im Sommer ist schlecht“. Dann zieht er sich in seine Praxis zurück, pfff, Sprechstunde…

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Tom

    Ich hatte mich gewundert, wie und warum ihr zu den Wohnungen gekommen seit. es ist wirklich gemütlich geworden und ich freue mich darauf, demnächst mal euch und Eure Wohnburg wieder zu sehen. Danke auch für die Erklärung zum Wandbild in „Chèz Marie“.

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