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Inspiriere mich

In der Küche steht zurzeit eine Schale voller Orangen und Zitronen. Die Zitronen hat Gitti frisch geerntet. Die letzten Monate über hingen sie an dem kleinen Zitronenbäumchen, welches gerade mit aller Kraft in unserem Treppenhaus überwintert. Jetzt liegen die wunderbaren Früchte harmonisch angeordnet in der großen Schale vor mir, angestrahlt vom warmen Licht, welches die ganze Küche gerade in eine heimelige Atmosphäre taucht.

Hinter der Schale sitzt eine kleine Holzfigur. Sie zeigt den abstrahierten Körper eines Menschen. Dessen Beine sind gekreuzt. Der linke Unterschenkel liegt flach auf dem Boden. Das rechte Bein ist aufgestellt, und so weist das rechte Knie schräg nach oben. Der Oberkörper der Figur ist etwas zur Seite geneigt. Der meiste Teil des Rumpfes fehlt. Das ist der Abstraktion und der Ästhetik geschuldet. Der linke Ellbogen stützt sich auf das linke Knie. Der Kopf der hübschen Holzfigur ist in die offene Handfläche ihrer linken Hand gelegt. Der rechte Arm hält die Balance. Der rechte Ellbogen ist seitlich abgewinkelt, und die rechte Hand umfasst von außen das rechte Knie sowie einen Teil des zugehörigen Unterschenkels. Ich sehe eine denkende Person vor mir. Und die guckt geradewegs in die Obstschale.

Wenn auf der Arbeitsplatte etwas mehr Platz wäre, würde ich mich glatt in gleicher Pose neben die Holzfigur setzen und darüber nachdenken, was wir mit all den leckeren Orangen und Zitronen machen werden. Spontan beuge ich mich wenigstens etwas zur rechten Seite, lege behutsam meine Wange in meine rechte Hand und stemme der Ästhetik wegen meinen linken Arm in die Hüfte. Und so gucken nun die Holzfigur und ich miteinander auf die hübsche Schale und ihren Inhalt. Ich versinke tief in dieser Haltung und denke erstmal nichts. Gar nichts. Nach einer Weile kann ich nicht mehr sagen, ob ich nun das Spiegelbild der Figur darstelle oder ob es umgekehrt ist.

Natürlich kommt in solchen Momenten immer jemand vorbei. Hier ist es zum Glück Gitti. Sie wundert sich langsam über nichts mehr. Dennoch kann sie sich ein Kichern kaum verkneifen. Dann obsiegt ihre Wissbegierde, und sie fragt, was ich da eigentlich mache.

Inzwischen fühle ich mich der Holzfigur so verbunden, dass ich doch glatt sage: „Wir denken darüber nach, was man alles mit den wunderbaren Orangen und Zitronen machen kann.“

Gitti erklärt mir, dass sich auch ein paar Clementinen in der Schale befinden. Beherzt greift sie zu und verschwindet sogleich mit dreien davon gen Wohnzimmer. Die Holzfigur und ich bleiben etwas ratlos zurück.

Ich bin zu satt für all die leckeren Gerichte, die mir einfallen und auf deren Zutatenlisten wahlweise Orangen, Zitronen oder beides stehen. Die Holzfigur spiegelt mir einen völlig anderen Gedanken. Und so wabert plötzlich dieser Satz durch meinen Kopf: „Wenn Dir jemand Zitronen schenkt, dann mach Limonade daraus!“

Ich habe zunächst keine Ahnung, wo ich das schon einmal gehört haben könnte. Später finde ich heraus, dass ein Jugendroman von Virginia Woolf einen ganz ähnlichen Titel trägt: „Wenn Dir das Leben eine Zitrone gibt, mach Limonade draus“. Bereitwillig mache ich derweil das Beste aus meiner Unwissenheit und lasse die Früchte weiter auf mich wirken.

Das leuchtende Gelb der Zitronen und das warme Orange der Orangen verbinden sich mit ein paar grünen Blättern, die Gitti beim Pflücken der Zitronen mit geerntet hat. Der zarte Duft, der aus der Schale aufsteigt, kitzelt in meiner Nase. Bis eben war mir noch etwas kalt. Kein Wunder bei den Temperaturen, die da draußen vorherrschen! Aber jetzt spüre ich, wie mir warm ums Herz wird und wie sich dieses wohlige Gefühl in meinem ganzen Körper ausbreitet.

Mir wird wieder einmal bewusst, wie stark ich auf Licht und Farben reagiere. Strahlt vom Himmel die Sonne herab, so strahle auch ich? Nein, ganz so einfach läuft es nicht.

Ich bin im Rheinland aufgewachsen. Dort gibt es häufiger mal zwei Wochen Nieselregen am Stück. Man tut in solchen Gegenden gut daran, seine Stimmung so gut es geht vom Wetter abzukoppeln. Der berühmte rheinische Frohsinn ist vermutlich eine direkte Trotzreaktion auf längere Phasen mit wolkenverhangenem Himmel. Man darf sich die gute Laune eben nicht so leicht verderben lassen! Natürlich bin ich nicht völlig immun gegen trübes Wetter. Selbstverständlich zieht es mich ein kleines Stück runter – aber mehr als ein kleines Stück lasse ich nicht zu!

Den eigenen Frohsinn ohne speziellen Grund zu zelebrieren, hilft auf jeden Fall.

In unserem Zuhause setzen Gitti und ich Farben und Licht gerne als Stimmungsaufheller ein. Die Struktur von Oberflächen spielt ebenfalls eine nicht zu unterschätzende Rolle. Während andere Menschen es spiegelblank mögen, bevorzuge ich die etwas angerauten Flächen, die meinen Händen schmeicheln, wenn ich sie berühre.

Licht kann zugleich hell und warm sein. Die Beleuchtungsstärke gibt man in Lux oder Lumen an, die Lichttemperatur in Kelvin. Zur Erinnerung: Kelvin ist wie Grad Celsius, die Skala fängt bei Kelvin einfach nur am absoluten Nullpunkt, also bei -273,15 °C, an. Gitti und ich haben uns anlässlich eines Stehlampenkaufs einmal näher mit dem Licht und seiner Wirkung auf uns befasst. Am Ende kauften wir eine Lampe, deren Lichtfarbe wir zwischen warmweiß, neutralweiß und tageslichtweiß umschalten können. Die Lichttemperatur der Lampe lässt sich innerhalb dieser Farbgruppen zusätzlich dimmen. Auf diese Weise können wir den Raum gezielt unterschiedlich beleuchten.

Ich nehme plötzlich eine winzige Bewegung wahr, und die katapultiert mich umgehend zurück in die Gegenwart. Immer noch stehe ich in der Küche vor der Schale mit den Zitrusfrüchten. Aus der Ferne höre ich einen Ausruf: „Inspiriere mich!“ Es kommt mir doch glatt so vor, als ob die kleine Holzfigur ihren Kopf etwas angehoben hätte und mich nun fragend ansehen würde. Das kann doch gar nicht sein! Spüre ich nicht sogar einen kleinen Luftzug, der meine Handgelenke umspielt?

Bevor mir das dann doch zu unheimlich wird, flüchte ich zu Gitti ins Wohnzimmer. Dort klärt sich auch auf, was mit meinen Empfindungen los ist. Der Luftzug rührt nämlich einfach daher, dass Gitti gerade die Balkontür geöffnet hat, um frische Luft hereinzulassen. Und vermutlich hat sie auch etwas mit dem Ausruf zu tun – aber danach frage ich jetzt lieber nicht.

Puh, das ist gerade nochmal gutgegangen!

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