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Lust auf Neues

Ich bin nicht neugierig, wenn ich alles weiß. Natürlich will ich gleichzeitig nicht alles wissen. Manches möchte ich ausdrücklich nicht wissen! Eine gewisse Diskretion ist mir wichtig, und die wünsche ich mir von anderen Leuten auch.

Neugierde ist eine nicht überall gern gesehene Eigenschaft. Zugleich braucht man sie, um sich weiterzuentwickeln. Es kommt mal wieder darauf an, in welchem Zusammenhang man über Eigenschaften wie die Neugierde urteilt. Wann bin ich so etwas wie neuschwierig und wann eher im positiven Sinne wissbegierig?

Stiere ich im Supermarkt in den Einkaufswagen fremder Leute? Werfe ich ohne zu fragen einen Blick in Schränke, die mir nicht gehören und deren Türen nicht gerade sperrangelweit offenstehen? In diesen Fällen könnte es durchaus sein, dass die Besitzer des Einkaufwagens oder des Schrankes mich als unangenehm neugierig empfinden.

Wenn in dem Einkaufswagen gerade eine kleine chemische Reaktion in Gang gekommen ist, die gleich aus dem dünnen Rauchfädchen, das sich bereits gebildet hat, eine Flamme schlagen lassen wird, wirkt mein Stieren ganz anders. Man wird mir eine gewisse Aufmerksamkeit attestieren. Wenn es dann nicht beim Stieren bleibt und ich mich aktiv daran beteilige, die entstehende Gefahr zu bannen, werde ich vielleicht sogar als kleine Alltagsheldin gefeiert – und das werde ich dann selbstverständlich als völlig übertrieben zurückweisen.

Am Ende der ersten Januarwoche zieht es Gitti und mich zum Supermarkt in unserer Nähe. Es ist die Hölle los. Die Menschen kaufen vermutlich wieder ein, als gäbe es kein Morgen mehr. Wir ergattern einen Parkplatz, wappnen uns mit viel Geduld und erobern einen Einkaufswagen.

Der Supermarkt hat neue Einkaufswagen angeschafft. Sie sind nicht mehr mit Ketten und Pfandschlössern ausgestattet, und so braucht man weder ein Geldstück noch einen Chip, um sich einen Wagen nehmen zu können. Das ist ja super! Am Griff ist ein merkwürdiger Halter installiert. Dessen Form erinnert mich an die typische Park- und Ladestation für eine elektrische Zahnbürste. Mit etwas Mühe vertreibe ich spontan aufblitzende Bilder aus meinem Kopf. Was soll ich hier im Supermarkt mit einem Zahnbürstenhalter? Wie ging der Slogan noch? Nach jedem Essen Zähneputzen nicht vergessen? Aber man soll die Waren doch nicht gleich hier verspeisen!! Die Vorrichtung dient hoffentlich einem anderen Zweck. Soll man da etwa seinen zusammengerollten Einkaufszettel reinstecken? Wie unpraktisch!

Ich frage Gitti. Sie weiß Bescheid und zeigt mir eine Art Tafel. Ganz viele Handscanner stecken in der Tafel. Sie werden aufgeladen, während sie auf ihren nächsten Einsatz warten. Kunden dürfen sich solch einen Scanner nehmen und dann bereits während ihres Einkaufs alles einscannen, was sie einkaufen wollen. An der Kasse müssen sie dann keine Waren mehr auf das Laufband legen. Das Umpacken entfällt, Wartezeiten an der Kasse können auf diese Weise signifikant verkürzt werden. Man schließt seinen Einkauf ab, der Handscanner zeigt einen QR-Code an, und mit dem kann man dann an der Kasse bezahlen.

Natürlich denke ich sofort darüber nach, wie man sicherstellt, dass die Leute weder zu viel noch zu wenig bezahlen. Mein Blick schweift zur Decke. Gibt es Kameras? Eine Gesichtserkennungssoftware wird vermutlich nicht eingesetzt. Für diesen Anwendungsfall wäre das viel zu kompliziert und damit auch viel zu teuer. Zeichnet man meine Bewegung auf dem Weg durch den Markt auf? Wenn ich den Scanner starte, könnte man meine Silhouette als einen Datenpunkt markieren. Und dann könnte man meine Bewegung als die Spur dieses Datenpunktes verfolgen. Ob die Warenbestände in den Regalen automatisch abgeglichen werden, um auch den Verbleib der Produkte zu verfolgen? Auf diese Weise könnte man bestimmt eine Plausibilitätsprüfung durchführen, oder? Ich gebe mich mit diesem einfachen Lösungsansatz zufrieden und konzentriere mich auf unseren Einkauf. Den führen Gitti und ich ganz traditionell aus – ohne Scan and Go, dafür aber später mit einem kleinen Plausch mit der netten Kassiererin!

Ungewöhnlich viele Väter zockeln heute mit all ihren kleinen Kindern durch die Gänge. Einige von ihnen kennen sich im Markt offensichtlich überhaupt nicht aus und irren orientierungslos umher. Brauchen deren Frauen zu Hause endlich mal Platz und Ruhe? Warum ausgerechnet heute? Ein Teil dieser umherirrlichternden Väter nutzt die Gelegenheit, den wissbegierigen Nachwuchs aufs Leben vorzubereiten. Das braucht Zeit, leider aber auch unglaublich viel Platz. Natürlich rennen die Kinder mit jedem einzelnen Produkt durch die Gänge. Ihre Väter warten mitten im Gang stehend und assistieren dann beim Scannen – oder ist es umgekehrt?

Ohne gleich zu stieren gucke ich beiläufig in den Einkaufswagen eines jungen Mannes. Ob der Inhalt seines Einkaufswagens etwas über seinen Lebenswandel verrät? Heimlich gleiche ich ab, ob ich der äußeren Erscheinung des Mannes bei einem Quiz genau diesen Einkaufswagen zugeordnet hätte. Das ist übrigens keine Neugierde. Der junge Mann ist mir offen gestanden völlig egal. Ich gönne mir nur eine kleine Trainingseinheit, was das Einschätzen anderer Menschen angeht. Dann fällt mir ein, dass ich damit vor allem meine eigenen Vorurteile pflege. Sofort fühle ich mich ertappt, gelobe Besserung und verhalte mich für den Rest des Einkaufs diskret.

Gitti und ich probieren in all dem Chaos heute auch etwas Neues aus. Wir haben unseren Einkaufszettel in der Cloud hinterlegt. So können wir gleichzeitig ausschwärmen und online abhaken, was wir schon in den Wagen geräumt haben. Gitti könnte mir sogar von zu Hause aus noch etwas auf den Zettel schreiben, wenn ich schon losgezogen bin. Sie könnte auch jetzt, wo ich in der Drogerieabteilung bin, noch einen Wunsch äußern, während sie selbst bei Milch und Butter weilt. Wir stellen fest, dass die Liste sich mit einer gewissen Zeitverzögerung synchronisiert. Immerhin wissen wir jetzt, wie das geht.

Kurz vor der Kasse finde ich einen alten verknitterten Einkaufszettel in meiner Jackentasche. Ich nehme schnell ein Foto auf und kopiere es in die digitale Einkaufsliste. Darunter schreibe ich: „Brauchst Du noch etwas von dieser analogen Liste?“

Zeitverzögert entdecke ich Gittis letzten Kommentar: „Der handgeschriebene Zettel ist prima. Den können wir gerne nächste Woche verwenden.“

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Tina Hempel

    Eine prima Geschichte aus dem Leben!
    Wie schön doch die Zeiten mit Bargeld und analogem Zettel waren – ging alles viel schneller!

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