Auf dem Parkplatz des Lebensmittelmarktes geht es schon los. Gitti ist entschwunden, einen Einkaufswagen zu holen, ich hebe gerade das Leergut aus dem Kofferraum. Neben mir parkt ein Wagen ein. Aus dem Augenwinkel nehme ich wilde Gesten beider Insassen wahr, die sich aber nicht auf mich zu beziehen scheinen, denn keiner der beiden guckt mich an. Sie sind eher miteinander beschäftigt. Noch sind die Türen zu, noch kann ich eigentlich nicht wissen, ob sie nur angeregt reden oder ob es da einen Streit gibt. Und doch weiche ich innerlich zurück. Ich bekenne gerne meine Harmoniesucht – und wünsche mir, dass sie noch ein Weilchen drinnen sitzen bleiben.
Kurz und schmerzvoll: Ich werde nicht erhört. Die Beifahrertür fliegt auf. Meine Ohren erreicht der Rest eines Satzes: „…immer so!!!“ Ich will lieber gar nicht wissen, worum es geht.
Mit dem Leergut stürme ich jetzt Gitti und dem Einkaufswagen entgegen, gemeinsam stürmen wir in Richtung Ladentür weiter. Der laute Streit der Park-Nachbarn wird leiser, je weiter wir uns von ihnen entfernen. „Was rennst Du denn so?“, fragt Gitti irritiert. „Ich will keinen Streit!“, antworte ich. Gitti guckt kritisch, also konkretisiere ich: „Ich will den Streit von dem Pärchen da hinten nicht anhören müssen.“ Puh, das war knapp, auf Gittis Gesicht war schon die Frage abzulesen, worüber ich jetzt mit ihr nicht streiten möchte.
Am Leergut-Automaten reiht sich das Pärchen bald hinter uns in die kleine Warteschlange ein. Die Stille zwischen ihnen ist ohrenbetäubend. Beide schmollen und gucken in verschiedene Richtungen. Die Frau richtet sich nach einer Weile innerlich und äußerlich auf, streckt den Rücken, hebt die gerade noch frustriert herunterhängenden Schultern ein wenig an und versucht ein kleines Lächeln in meine Richtung. Ich schenke ihr auch ein Lächeln und nicke ihr aufmunternd zu.
Der Mann reckt derweil seinen Nacken, zuerst senkt er dabei den Kopf nach unten, dann streckt er sein rechtes Ohr in Richtung Decke, anschließend das linke Ohr. „Wie ein Boxer, der in der Ecke des Rings auf die nächste Runde wartet. Da fehlen nur das typische Tänzeln und das Ausschütteln der Arme“, denke ich still vor mich hin. Jetzt sind wir dran, den Automaten zu bestücken, also löse ich meinen Blick vom Boxer und assistiere Gitti, so gut es geht. Bald darauf entlockt sie dem Automaten den Pfandbon, dann schieben wir ab in Richtung Gemüseabteilung.
„Doch nicht die!“, dringt vorwurfsvoll an mein Ohr, gefolgt von: „Dann such sie doch selbst aus!“ Das Pärchen hat uns wieder eingeholt. Die Aufgabe, eine schöne oder gar die einzig richtige Gurke auszuwählen, hat das Feuer des Streits wieder angefacht. Ich seufze tief. „Was ist?“, fragt Gitti, die gerade eine schöne Auswahl von Tomaten in den Wagen legt. Ich deute mit den Augen in Richtung des Pärchens und sage: „So wird das nix.“
Gitti versteht auch ohne große Worte, was ich meine. Ich schenke ihr ein dankbares Zwinkern.
Jetzt versucht die Frau des Boxers es mit: „Da vorne gibt es Avocados.“ Der Boxer sagt „Ja“ und bewegt sich nicht vom Fleck. Die Frau funkelt ihn an. „Ich würde zwei mitnehmen.“ Er darauf: „Mach doch.“ Sie wird eindringlicher: „Die brauchen wir für unser Essen!“ Seine Antwort: „Aha.“ Sie: „Heute!!“ Er antwortet nicht, guckt sie nur genervt an. Dann nimmt er einen Apfel aus dem Ständer neben ihm, einfach den nächsten, den er zufällig zu fassen bekommt. Er wirft ihn ein paar Mal vor sich hoch, nur ein paar Zentimeter, und fängt ihn wieder auf. Beide halten den Blick. Sie verliert. Sie dreht sich um und macht sich wütend auf den Weg zu den Avocados. Er umfasst den Apfel etwas fester, funkelt ihn durchdringend an, hebt den Arm und bremst sogleich seine Bewegung wieder ab, mit der er ihr beinahe den unschuldigen Apfel hinterhergeworfen hätte. Welch eine Versuchung!
Es ist völlig klar, was da passiert. Er will eine klare und vor allem direkte Ansage und keinen verbrämten Hinweis auf ihre Wünsche. Er versteht schon, was sie von ihm will, aber er hasst dieses Spiel. Sie möchte, dass er ihre Wünsche erfüllt, ohne dass sie diese direkt ausspricht. Sie hilft ihm dabei, ihre Wünsche zu erkennen, indem sie kleine Hinweise platziert. Sie wünscht sich, dass auch er Verantwortung für den Erfolg des Einkaufs übernimmt. Das würde ihr das Gefühl geben, etwas wert zu sein, von ihm umworben zu werden.
Er übernimmt durchaus Verantwortung. Schließlich ist er mitgekommen, beteiligt sich am Einkauf, wird hinterher wieder viel zu viele Dinge durch die Gegend schleppen und sie nach Hause fahren. Auf der Heimreise wird er sogar etwas langsamer fahren, als er eigentlich will, und zwar nur, damit sie nicht wieder völlig verkrampft neben ihm sitzt und ihren rechten Fuß in die Fußmatte stemmt, als könnte sie damit den Wagen abbremsen. Die Fußmatte ist an der Stelle schon ganz dünn!
Vor zwei Jahren hat er mal erwähnt, dass er sie liebt. Sie weiß also Bescheid. Deshalb fragt er sich: Was soll das jetzt? Hier, mitten im Supermarkt? Mittendrin?!? Die Gemüseabteilung ist immer direkt hinterm Eingang! Beide wissen, dass sie noch eine ganze Strecke bis zur Kasse vor sich haben. Und die ist gepflastert mit weiteren Fallen. Puh!
„Mann müsste mal den Müll rausbringen“, sage ich mit einem Augenzwinkern zu Gitti, als wir uns wieder am Einkaufswagen treffen. „Meta-Kommunikation“ sagt sie. „Ja, das würde ihnen helfen“, erwidere ich.
Meta-Kommunikation, also die Kommunikation über die Kommunikation hilft über solche Fallen hinweg. „Wenn die das jetzt und hier im Supermarkt versuchen, wird das aber auch nichts“, vermutet Gitti. „Das glaube ich auch. Die haben heute schon mindestens vom Parkplatz bis zur Gemüseabteilung in ihren Verletzungen gebadet. Da kannst Du in jedem Satz einen ganzen Roman an Subtext mitlesen. Lauter Unterstellungen, warum der andere so böse und unaufmerksam und respektlos und vor allem so lieblos und verletzend ist. Keine Sach-Aussage mehr, nur noch Deutungen, nur noch Beziehungskram.“
Gitti gibt zu bedenken: „Dafür braucht man Offenheit. Man muss sich Mühe geben, auch das eigene Verhalten aus der Perspektive des anderen zu sehen. Dafür musst Du Dich ja auch von den vielen Interpretationen lösen, die Du immer sofort parat hast. Das ist nicht so einfach!“ „Hm, das ist wahr. Das tatsächlich gesprochene Wort geht sonst komplett verloren. Dann ist es egal, was der andere sagt. Oder wie er es sagt. Und wenn er stattdessen dann gar nichts mehr sagt, ist das erst recht ein Affront!“ „Genau,“ stimmt Gitti ein, „und dann kann man sich endlich darüber streiten, wer angeblich angefangen hat.“
Ich überlege weiter: „Und wenn das mit der Meta-Kommunikation nicht mehr klappt? Dann führt es zur Ex-Kommunikation, also zum Ausschluss aus der Gemeinschaft, stimmt‘s?“ Gitti kichert. „Na, da wird sich die Kirche aber freuen, wenn Du jetzt solch eine private Trennung als Ex-Kommunikation bezeichnest!“ „Hm, meinst Du echt, dass ich damit die Gefühle eines Gläubigen verletzen kann? Uff, das Leben steckt echt voller Fallen!“ Gitti beruhigt mich: „Na ja, es kommt schließlich auch noch darauf an, wer es sagt. Wenn Du Dir schon das Vertrauen des anderen erarbeitet hast, dann ist er Dir auch nicht so schnell böse.“ „Dann ist noch Hoffnung?“, freue ich mich. Wir schieben ab in Richtung Käsetheke.
Das Pärchen verlieren wir aus den Augen, ich wünsche ihnen von Herzen wenigstens eine schöne Versöhnung.
Wie immer sehr nett präsentiert und mit viel Hintergrund, vielen Dank.
Abenteuer Einkauf!
Super bildlich dargestellt, und wir haben uns herzlich amüsiert!
Danke!