Ein ungewöhnliches Geräusch platzt in den wunderbaren Moment der Ruhe, den ich mir gerade gönne. Was war das? Ich wende mich Gitti zu. Sie sitzt neben mir und ist ebenfalls kurz zusammengezuckt.
Gemeinsam scheitern wir bei dem Versuch, uns das Geräusch gegenseitig mit Worten zu beschreiben. Wir versuchen es mit Onomatopoesie, also der sprachlichen Nachahmung des außersprachlichen Klangereignisses.
Diese Lautmalerei bringt uns leider auch nicht weiter. Deshalb wenden wir nun unsere Köpfe still nach links und rechts, während wir mit den Augen den Raum nach etwas Ungewöhnlichem abscannen. Das anschließende kunstvolle Verdrehen unserer Oberkörper erweitert unsere Blickfelder und ist der Erhaltung unserer Beweglichkeit sicher zuträglich – aber das ist es dann auch schon. Wir beraten, aus welcher Richtung das Geräusch kam. Keine von uns beiden verspürt Lust, jetzt aufzustehen.
Machen wir es kurz: Ich verliere das Spiel und erhebe mich seufzend. Mit einem Ruck richte ich mich sodann kerzengerade auf, verenge meine Augen zu Schlitzen, aus denen ich nun stechend zu gucken vermag und stemme beide Hände in die Hüften. Ich laufe ein wenig hin und her. Den im Raum befindlichen Gegenständen vermittle ich mittels meiner Körperhaltung und dem Ausstrahlen größtmöglicher Autorität, dass ich durchaus auch andere Saiten aufziehen kann, sollte sich der Übeltäter nicht freiwillig dazu bekennen, unser Idyll gestört zu haben.
Selbstredend weiß ich, dass unsere Gegenstände sich einen Dreck um all das Theater scheren, das ich da aufführe. Die implizite Drohung ist zudem ziemlich leer. Im besten der denkbaren Fälle ist nichts zu tun, ansonsten steht vielleicht eine Reparatur an. Es könnte auch sein, dass ein Kollateralschaden zu beheben ist. Der könnte zum Beispiel entstehen, wenn der Übeltäter im Herunterfallen einen anderen Gegenstand beschädigt hat und selbst völlig intakt nur da herumliegt, wo er aus unerfindlichen Gründen eben hingefallen ist. Vielleicht ist mit einer Schimpftirade meinerseits zu rechnen. Im schlimmsten Fall wird der Gegenstand entfernt. Aber das ganze Theater hilft mir, meiner inzwischen völlig übersteigerten Empörung Ausdruck zu verleihen. Zur Erinnerung: Ich empöre mich ja eigentlich nur, weil mich das Geräusch gestört hat! Außerdem kann ich mit der Aufführung des Theaters zugleich einen Teil des Frusts darüber, dass die bloße Neugierde mich aus meiner gemütlichen Sitzposition herauskatapultiert hat, abbauen.
Nach kurzer Zeit entdecke ich dann auch den Übeltäter. Genaugenommen die Übeltäterin. In der Zimmerecke steht sie herum und wirft einen unschuldigen Schatten an die Wand. Es handelt sich um Gittis Gitarre. Die dritte Saite von links ist gerissen. Ein kurzes Stück davon hängt schlaff nach unten. Der Rest der Saite ist nach oben gesprungen und hat sich dann dort wie eine Schleife quer an den oberen Teil des Gitarrenkopfes gelegt. Fast wirkt es so, als lächelte sie mich entwaffnend an.
Wo ich schon hier stehe, kann ich auch gleich noch hinausgehen und eine volle Flasche Wasser hereinholen, bevor ich mich wieder gemütlich niederlasse. Im Rausgehen rufe ich Gitti zu: „Da musst Du mal neue Saiten aufziehen!“ Mit Betonung auf dem Du, denn ich kenne mich damit nur theoretisch aus.
Als ich mit der Wasserflasche zurückkehre, möchte Gitti von mir wissen, welche der Saiten betroffen ist. Sie recherchiert bereits, wo sie neue Saiten erstehen kann. Ich habe längst vergessen, wie die dritte Saite von links heißt. So berichte ich ihr wenigstens, es sei die dünnste der drei dicken Saiten.
Später schlage ich deren Namen nach und finde eine passable Eselsbrücke: Eine alte Dame geht Honig einkaufen. Über diese Brücke geht es von der dicksten hinüber zur dünnsten Saite, also von den tiefen zu den hohen Tönen, und damit vom tiefen E über A, D, G und H zum hohen E. Bei Gittis Gitarre ist also die D-Saite gerissen.
Gittis Recherche ergibt derweil, dass die meisten Saiten im Satz angeboten werden. Wir wollen demnächst sowieso in die Stadt fahren. Ich erinnere mich an einen kleinen Musikalienhandel, in dem wir vor ein paar Jahren einmal zusammen Noten gekauft haben.
Der Laden liegt im Herzen der Stadt. In seinem Inneren knarzen die Dielen. Er ist vollgestopft mit allem, was man zum Musizieren braucht: Noten, Zubehör für diverse Instrumente und im Kellergeschoß sogar eine ansehnliche Auswahl verschiedener Blas- und Zupfinstrumente. Es herrscht eine ruhige Atmosphäre. Tritt jemand ein oder aus, so läutet ein kleines Glöckchen, das vom oberen Bereich der Ladentür angeschlagen und so zum Klingen gebracht wird. Im Inneren scheint ansonsten die Zeit stillzustehen. Ein Besuch dieses Musikalienhandels ist Labsal für die Seele.
Spätestens ab hier sind wir alle beide wieder bester Laune. Umgehend planen wir, uns Ende der Woche einen schönen Shopping-Tag zu gönnen – und danach kann Gitti endlich neue Saiten aufziehen, zumindest mal eine D-Saite.