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O Du fremdes Wort

Der Kollege hat ein Schema gezeichnet. Und noch zwei. Die liegen jetzt vor uns auf dem Tisch und wir diskutieren darüber, ob es effektiver, übersichtlicher, schöner geht. Auf einmal sagt er: „Das Problem mit den Schemen ist, dass…“

Den Rest bekomme ich fast nicht mehr mit, denn mein Hirn hat kurzfristig die Verarbeitung weiterer Worte verweigert. Stattdessen schreit es innerlich: „Schemata!!! Oder soll man etwa auf jedem Schema die dargestellten Sachen nur schemenhaft erkennen können?!?“

Meine Ohren machen derweil ihren Job und leiten unbeirrt alles ans Hirn weiter, was den Weg in die Ohrmuscheln findet. Ich arbeite den entstandenen Stau im Hirn ab, beruhige mich wieder und höre erstmal nur zu. Der zweite Kollege, der sich an der Diskussion beteiligt, weiß es scheinbar noch besser, er faselt jetzt dauernd von Schematas. Wieder tobt es in mir, wieder schreit es innerlich „Schemata!!!“ – und wieder muss ich um meine Konzentration ringen.

Ich weiß genau: Wenn ich jetzt betont und übertrieben oft die mir vertraute Mehrzahl von Schema, also Schemata, verwende, kann ich die restliche Diskussion vergessen. Dann gelte ich als arrogant und besserwisserisch. Das Vertrauen, das ich so mühsam aufgebaut habe, ist dann futsch. Und wenn ich direkt sage: „Es heißt Schemata!“, oute ich mich als Klugscheißerin. Also muss ich das jetzt aushalten.

Der Schematas-Kollege versucht es dagegen, und das tut er mit Ausdauer: Immer, wenn der Schemen-Kollege das böse Wort verwendet, antwortet der Schematas-Kollege mit seiner Variante. Gnadenlos baut er sein Wort in den nächsten Satz ein und unterstreicht es mit einer Kunstpause. Ich seufze und beginne heimlich damit, eine Strichliste zu führen. Links Schematas, rechts Schemen. Über das Päckchen mit den Strichen für die Schemen male ich ein kleines Nebelwölkchen, um nicht durcheinanderzukommen. Diese Nebenbeschäftigung hilft mir, meine Aufmerksamkeit wieder auf den Inhalt der Diskussion zu richten und mich endlich konstruktiv daran zu beteiligen.

Nach der Diskussion reiße ich den Zettel mit der Strichliste in kleine Stückchen, kehre sie mit der linken Hand über die Tischkante in meine rechte Handfläche, werfe die Schnipsel in die Luft und lasse sie auf meinen Tisch regnen. Jetzt geht es mir besser. Für heute reicht es. „Feierabend!“ rufe ich innerlich aus, fahre mein Büro herunter und mache mich auf den Heimweg.

„Wie war Dein Tag?“, begrüße ich Gitti. Sie stöhnt: „Ich habe gerade mit Susanna telefoniert. Die hat mir jetzt eine ganze Stunde lang einen Vortrag über Anglizismen gehalten. Vor allem darüber, wie schlimm sie deren Verbreitung findet.“ „Oh, Susanna“, seufze ich, „oh, don’t you cry for me! Mist, jetzt habe ich diesen Song als Ohrwurm! Die Susanna wird noch zur alleinigen Retterin der deutschen Sprache, oder? Mit Piepsstimme und schwäbischem Akzent!“ Gitti kichert. „Ja, aber das Beste war: Nach einer geschlagenen Stunde hat sie gesagt: ‚Mir sind näggschde Woch wieder on Tour, mei Schätzle und ich.‘ Stell Dir das mal vor! ‚On Tour‘, direkt nach diesem Vortrag!“ „Oho!“, nehme ich den Faden auf. „Susanna spricht jetzt auch Schwänglisch… Wo soll sie denn hingehen, die Tour?“ „Frankreich.“ „Oh là là! Da ist sie gut aufgehoben. Die Franzosen haben schon vor vielen Jahren ein Gesetz zum Schutz der französischen Sprache erlassen…“

Ja, stimmt, ich bin manchmal gemein – und davon überzeugt, dass auch ich viel Blödsinn rede, über den sich dann andere Leute aufregen – viel Vergnügen!

Frisch erholt und guten Mutes trete ich am nächsten Morgen wieder an. Rechner hochfahren, ein warmes Getränk organisieren, Mails checken, das sind die ersten Aktionen. Schnell flammt meine Verzweiflung von gestern wieder auf, denn: Eruieren und Erodieren hören sich ähnlich an und liegen auch orthografisch gefährlich nah beieinander. Ich eruiere, also finde ich heraus, ich erodiere, also trage ich etwas ab oder spüle es weg. Und das würde ich auch gerne mit der Mail machen, die mich gerade auf dem Bildschirm angrinst. Ihr Absender verspricht mir darin, das Thema aus der Betreffzeile „mal zu erudieren“ – was es gar nicht gibt. Tippfehler? Ich starre meine Tastatur an. Kann das versehentlich passiert sein? Unwahrscheinlich. Na, hoffentlich wird sein Forschungsergebnis wenigstens erhellend sein. Ob ich mich lieber selbst um das Thema kümmern will? Nein, das wäre jetzt auch übertrieben. „Hab Vertrauen!“, murmele ich und klappe die Mail wieder zu.

Die nächste Mail bringt mich auch in Wallung. „Das wird mein Tag!“, schimpfe ich voller Ironie vor mich hin, denn der Absender der Mail schlägt vor: „…das Wording anders zu vereinbaren.“ Sein Problem: Vor Wochen wurde ein internes Organisationsprojekt gestartet. Ein viel zu großer Kreis von Leuten hat dann schwer darum gerungen, passende Überschriften für die einzelnen Themen zu finden. Auf Deutsch war es schier unmöglich. Schnell kam die Idee auf, englische Begriffe zu verwenden. Damit ging es plötzlich viel besser, und flugs waren alle zufrieden. Mein Kollege bekam die Überschrift „Data Orga“ mit auf den Weg. Noch bevor er so recht wusste, was er da genau machen soll, haben sich die Leute aufgeteilt und sind davongerannt.

Allein oder in Grüppchen haben sie eine Zeit lang schwer gearbeitet – und gestern haben sie gemerkt, dass inzwischen jeder etwas anderes unter den Überschriften versteht. Die Konsequenz: Die schönen Überschriften sind damit quasi verbrannt.

„Aber die können die Sachen ja auch nicht jede Woche neu nennen!“, empöre ich mich innerlich. Und überhaupt: „Wording?!? Gut, dass Susanna nicht bei uns arbeitet!“

Insgeheim bin ich froh, mit diesem Projekt nur am Rande zu tun zu haben. Der Autor der Mail wünscht sich zum Glück nur meinen Rat. Er braucht ein passendes Wort, auf jeden Fall ein englisches. Mit „Data Orga“ kann er sich jedenfalls nicht mehr identifizieren. So kann er auf gar keinen Fall weiterarbeiten! Autsch! Mir ist sonnenklar: Eine neue Überschrift wird sein Problem vermutlich nicht lösen, jedenfalls nicht auf längere Sicht. Ich raffe mich auf und besuche ihn. Heutzutage heißt das „walk the talk“, und es funktioniert in solchen Fällen oft besser als ein Telefonat.

Die verhasste Überschrift kann ich meinem Kollegen nur schwer wieder schmackhaft machen. Er versteht, dass Inhalte am Ende des Tages viel wichtiger sind als Überschriften. Über die wunderbaren Inhalte, die er liefert, ist seine Überschrift bei den Kollegen sogar schon fast eine Marke. Jeder kennt sie, sie ist fest etabliert. Außerdem: Die anderen Überschriften des Projekts sind auch nicht besser. Er guckt immer noch unglücklich.

„Nimm Wollmilchsau, das ist wenigstens kein Englisch!“, schlage ich vor, „Außerdem kann sich da wirklich jeder was drunter vorstellen!“ Geschockt beginnt er, sein „Data Orga“, das doch wirklich viel, viel treffender ist, zu verteidigen. Und dann breitet sich ein Schmunzeln auf seinem Gesicht aus. Er macht seinen Frieden damit. Und auf seinem Gesicht lese ich, dass in ihm gerade eine Idee reift, wie er auch inhaltlich weiterkommt. Na dann, viel Erfolg!

Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. Tina

    Danke liebe Miriam!!
    Mit diesem Thema bist du ja ganz „up to day“…

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