Du betrachtest gerade Ohne Worte

Ohne Worte

Auf einem drehbaren CD-Turm liegen Theaterkarten. Der Turm steht an einer Stelle, die wir beide täglich mehrmals passieren. In ihm wohnen CDs. Er ist formschön und man kann sich prima mit ihm und seinem Inhalt beschäftigen – vor allem beim Staubwischen. Inzwischen hören Gitti und ich Musik fast ausschließlich über andere Quellen. Mutmaßlich funktioniert die Schublade des CD-Players noch. Die Hauptfunktion des einst als CD-Turm in unseren Besitz übergegangenen Möbelstücks hat sich im Laufe der Zeit gewandelt. Oben auf der Deckplatte liegen Karten für kommende Veranstaltungen. Sind Eintrittskarten einmal nur in digitaler Form vorhanden, so liegt hier wenigstens ein Ausdruck der Buchungsbestätigung. Längst ist der Turm unser Hort der Vorfreude.

Seit Tagen passiere ich die Stelle, an der er steht noch häufiger als sonst. Im Vorbeigehen heftet sich mein Blick an die Karten und sucht nach dem Titel der Veranstaltung, dem Datum und nach der Uhrzeit, zu der die Vorstellung beginnen wird. Einem Impuls folgend hebe ich meinen Arm, und bald gleitet mein Zeigefinger ganz sacht über das raue Papier. Ein Lächeln umspielt meine Mundwinkel, und ich zwinkere der obersten Karte zu, als ob ich mich mit ihr verabredete. Mit diesem sinnlichen Akt zelebriere ich wortlos meine Vorfreude.

Heute ist es endlich soweit. Gitti und ich wirbeln durchs Haus. Wann müssen wir wo sein? Was ist zuvor noch zu erledigen? Hat Gitti die Karten schon eingesteckt? Gitti kennt meine Marotten bereits und quittiert sie mit einem warmen Lachen. Wir machen uns auf den Weg.

Auf dem Programm steht das Theaterstück „Feste“ von Familie Flöz. Ich weiß nicht wirklich, was uns erwartet, kann mich aber lebhaft an die Begeisterung erinnern, mit der man mir davon erzählte. Offen gestanden ist nicht viel mehr hängen geblieben, als dass Masken eine Rolle spielen. Meine Wissenslücke ist mir peinlich. Auf dem Weg zum Theater werde ich sie nicht mehr schließen. So komme ich voller diffuser Vorfreude an, fest entschlossen, mich überraschen zu lassen.

Gitti und ich nehmen unsere Plätze ein. Währenddessen laufen auf der Bühne bereits Personen herum. Ein paar von ihnen hantieren mit Müllsäcken. Ihre Köpfe stecken in großen Masken. Die Masken sind wie Charakterköpfe gestaltet. Verblüfft stupse ich Gitti an und raune ihr zu: „Der sieht genauso aus wie …“

Wir sehen den Hinterhof eines herrschaftlichen Hauses am Meer. Das Stück beginnt mit Einlass des Publikums. Im Zuschauerraum kehrt allmählich Ruhe ein. Das Licht wechselt, Musik erklingt, und es entsteht eine ganz besondere Atmosphäre. Wir lassen uns in eine wunderbar erzählte Geschichte entführen.

Vordergründig erhaschen wir einen Blick hinter die Kulissen einer Hochzeit, die im Haus ausgerichtet werden soll. Im Hinterhof erleben wir, wie alle ihr Bestes geben, um das Fest zu einem unvergesslichen Erlebnis zu machen. Dazu gehören unter anderem der Hausmeister, die Putzfrau, der Koch und der Organisator der Veranstaltung. Es gibt feste Strukturen, daneben aber auch eine heimliche Liaison zwischen Hausmeister und Putzfrau. Eine hochschwangere fremde Frau platzt ausgerechnet jetzt und ausgerechnet hier im Hinterhof in die Vorbereitungen. Sie sucht Zuflucht. Plötzlich gerät die alte Struktur aus den Fugen. Die Beziehungen zwischen den Figuren verändern sich.

Gitti und ich schauen fasziniert zu, wie und wohin sich die Geschichte entwickelt. Das Publikum ist so leise, dass man eine Stecknadel fallen hören könnte. Das Stück kommt ganz ohne Worte aus. Die Masken lassen keine Mimik in den Gesichtern zu, und doch erkennen wir Zuschauer die passende Mimik der einzelnen Figuren genau. All die kleinen Gesten, Bewegungen und winzigen Veränderungen in den Körperhaltungen machen es möglich, dass wir ihre Emotionen lesen können. Die Musik trägt uns behutsam durch diese unglaublich poetisch erzählte Geschichte.

Natürlich verrate ich nicht, wie es weitergeht. Aber ich empfehle Dir dringend, einmal eine Aufführung von Familie Flöz zu besuchen.

Diese Kraft, winzigen Bewegungen solch einen starken Ausdruck zu verleihen, fasziniert mich. In den nächsten Tagen übe ich mich natürlich ein wenig darin, noch mehr auf die Körpersprache der Leute zu achten, denen ich begegne. Nebenbei fallen mir typische Elemente meiner eigenen Körpersprache auf. Hui, was man da so alles ohne Worte ausdrückt!

Schreibe einen Kommentar