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Orgosolo

Es ist Juni 2015, Gitti und ich fliegen zum ersten Mal nach Sardinien. Wir wollen Land und Leute kennenlernen, vor allem aber wollen wir die Seele baumeln lassen. Gitti hat vor vielen Jahren mal einen Sprachkurs in Italien gemacht, und so hoffen wir, uns mit ihren Kenntnissen und ansonsten auf Englisch verständigen zu können.

Der Flieger landet am Abend in Olbia. Wir holen den Mietwagen ab und werfen unser Navi an, das uns während der nächsten zweieinhalb Stunden den Weg zu unserem Hotel am Meer weisen wird. Es geht quer von Ost nach West über den nördlichen Zipfel der Insel. Als wir ankommen ist es stockdunkel.

Auf der Fahrt lernen wir: Auf den kleinen gewundenen Straßen kann man nicht wirklich schnell fahren, aber der Zustand der Straßen ist besser als zu Hause. Verkehrsregeln werden von den Einheimischen eher als Vorschlag interpretiert. Die Verkehrsschilder machen quasi freundliche Angebote. Wer sich mit maximal zulässiger Geschwindigkeit fortbewegt, wird schnell zum Verkehrshindernis. Da passe ich mich gern ein wenig an. Den Fahrstil der Insulaner empfinde ich als entspannt und total rücksichtsvoll, welch eine schöne Überraschung!

Auf Sizilien habe ich das im Jahr zuvor ganz anders wahrgenommen. Dort fuhren die Leute nicht einfach nur beherzt, sondern in höchstem Maße aggressiv. Alle. Auch teuerste Karossen fuhren auf Sizilien häufig total verbeult und ohne Rückspiegel herum, aber wozu auch auf so kleinliche Weise aufpassen, schließlich spielt die Musik vorne – und zwar die des Fahrers! Ich bin heute noch stolz darauf, dass wir den Mietwagen damals ohne eine einzige Beule durch den Urlaub gebracht haben.

Zurück zum aktuellen Urlaub auf Sardinien! Soeben eingetroffen, setzen wir uns nach dem Einchecken auf die geräumige Terrasse der kleinen Hotelbar. Das Meer liegt dunkel vor uns, die Luft schmeckt salzig. Trotz der späten Stunde serviert uns der freundliche Barmann noch einen leckeren Wein. Danach fallen Gitti und ich müde ins Bett.

Ich wusste ja schon zu Hause, dass das Hotel direkt am Meer liegt, aber am Morgen überrascht mich doch die Wucht des Anblicks: blaues Meer, blauer Himmel, felsige Küste, rosafarbener Oleander, leuchtend violette Bougainvilleen und weiter rechts ein kleiner Strand. Ich kann mich daran einfach nicht satt sehen.

Gitti und ich machen kleinere und größere Ausflüge und erkunden die abwechslungsreiche Insel. Wir fühlen uns pudelwohl. Einer der größeren Ausflüge führt uns in die Berge nach Orgosolo.

Es ist heiß an diesem Tag, die steilen Sträßchen verlangen dem kleinen Auto einiges ab, aber es bringt uns hinauf. Die Sonne brennt gnadenlos auf uns herab, während Gitti mich über den Ort und seine Bewohner aufklärt: „Im Mittelalter lebten Hirten in Orgosolo. Das Weideland war nie in Privatbesitz, und so ist es wohl auch heute noch. Um es nutzen zu dürfen, mussten die Hirten eine Abgabe an die Gemeinde leisten. Im späten Mittelalter gab es eine große Agrarreform. In der Folge stiegen die zu leistenden Abgaben so an, dass aus den friedlichen, jetzt aber bitterarmen Hirten eine Horde Banditen wurde. Sie rotteten sich zusammen und unternahmen Raubzüge, um zu überleben. Im Lauf der Geschichte lehnten sich die Bewohner von Orgosolo immer wieder gegen die Obrigkeit auf, außerdem gab es Familienfehden und Blutrache.“

Und just in diesem Moment fahren wir auf ein Straßenschild zu, das regelrecht von Kugeln durchlöchert ist. „Guck mal,“ sage ich zu Gitti „die letzte Schießerei ist wohl noch nicht so lange her.“ Mich Memme fröstelt angesichts der so unmittelbar erfahrbaren Gewalt.

Gitti fährt ungerührt fort: „1969 brauchte die NATO einen neuen Truppen­übungsplatz. Die italienische Regierung wollte ihn auf dem Weideland von Orgosolo bauen und die Bewohner wehrten sich, wie schon so oft. Diesmal allerdings gab es einen friedlichen Widerstand. Als Soldaten und Panzer anrückten blockierte fast die gesamte Bevölkerung die Straßen und das Weideland. Zum Glück zog das Militär wieder ab.“

„Wow, welch ein Schritt! Friedlich, aber bestimmt gleich mal das Militär vertreiben!“ Ich bin beeindruckt. Und mir wird wieder warm. Sogar heiß, also wegen der Sonne.

Gitti hat noch mehr zu erzählen: „Mitte der Siebziger Jahre bereitete sich Orgosolo auf die Feier des dreißigsten Jahrestages der Befreiung vom Faschismus vor. Ein Kunstlehrer malte mit seinen Schülern Plakate, die an den politischen Widerstand erinnerten. Die Plakate hängten sie an die Wände der Häuser. Eine Kollegin des Lehrers schlug vor, einige Motive direkt auf die Fassaden zu malen. Die eigensinnigen Bewohner ließen es zu. Die Leute fanden es sogar so toll, dass immer mehr Bewohner ihre Wände bemalen ließen. Die ersten Bilder erzählten vom Protest gegen den Truppenübungsplatz, prangerten Konzerne und deren Veruntreuung von Geldern an, manche stellten das Leben der Schäfer dar. Die Malereien blieben an den Wänden. Man nennt sie Murales.“

„Und heute?“, will ich wissen. „Heute zieren mehr als hundertfünfzig dieser Murales die Häuser. Es entstehen auch neue Gemälde zu aktuellen politischen und gesellschaftlichen Themen, und viele der alten Gemälde werden immer wieder restauriert. Und heute besuchen wir diese Freiluftgalerie.“

Ich bin entzückt. In einer engen Gasse finden wir einen Parkplatz. „Zuerst gehen wir etwas essen“, verkündet Gitti. Sie ist vorbereitet, in dieser engen Gasse liegt nämlich das kleine Restaurant, das sie wohl gestern schon recherchiert hat. Es gibt ein leckeres Menü mit landestypischen Spezialitäten.

Mit vollem Bauch wandern wir anschließend durch die kleinen Straßen. Wir freuen uns über jedes schattige Eckchen, die Sonne brennt immer noch vom Himmel herunter. Die Murales sind wirklich beeindruckend. Viele verschiedene Kunststile, häufig auch mit Texten dekoriert, die zum Nachdenken anregen. Gitti kramt fleißig in ihren Italienischkenntnissen, um mir beim Verstehen zu helfen. Hier werden wirklich keine Themen ausgelassen.

Wir fotografieren einige der Murales, erstehen ein Büchlein mit professionellen Aufnahmen und wandern staunend durch den Ort, bis wir zu erschöpft sind, um noch mehr aufzunehmen.

Auf dem Rückweg zum Auto sagt Gitti plötzlich: „Ich muss mal!“ Das wird schwierig jetzt, nirgends erspähe ich ein Café oder eine offene Bar. Aber da, schräg gegenüber, da winkt Hoffnung! „Guck mal, da ist ein Museum!“, rufe ich. Gitti guckt genervt und lässt mich wissen, dass sie bei dem schönen Wetter jetzt nicht ins Museum will. „Aber zur Toilette willst Du schon, oder?“ Ich wedle mit dem Arm in Richtung Museum und gucke so aufmunternd, wie ich nur kann. „Die haben bestimmt ein Klo!“ Gittis Miene hellt sich auf. Wir nähern uns dem kleinen Gebäude. Was mögen die hier wohl ausstellen?

Wir stolpern durch die Tür und werden von einer kleinen älteren Frau empfangen, die uns stolz hereinbittet. Ihr schwarzes Haar trägt sie zusammengebunden zu einem strengen Zopf. Sie weist Gitti mit einer eleganten Geste den Weg zur Toilette, die sich im Untergeschoss befindet. Während Gitti sich entfernt, um sich zu erleichtern, versuche ich, eine kleine Konversation über die Hitze in Gang zu bekommen. Leider finden die Signora und ich keine gemeinsame Sprache, also erkundige ich mich mit vielen Gesten und noch mehr Gestammel nach dem Museum und seinen Exponaten. Innerlich gelobe ich, Italienisch zu lernen, schon aus lauter Respekt vor der Signora. Die mustert mich mit ihren dunklen Augen. Charmant scheint sie mich zu fragen, ob wir eine Führung wünschen. Mir wird klar, dass wir hier nicht einfach so durchlaufen dürfen. Wenn wir das Haus sehen wollen, dann wird sie uns führen.

Gitti kehrt zurück. „Du, ich möchte mir das Museum gerne anschauen“, sage ich zu ihr. Die Signora nestelt derweil an ein paar kleinen Gegenständen herum, die auf einem Regal liegen. Sie wartet diskret unser Zwiegespräch ab. „Im Ernst?“, fragt Gitti erstaunt. „Ja, irgendwie finde ich das jetzt spannend. Das geht aber nur mit Führung. Und nur auf Italienisch. Was meinst Du?“ Gitti meint wahrscheinlich, dass ich ihr eine Schnapsidee verkaufe, aber sie spürt, dass es mich wirklich reizt. Also wendet sie sich der Signora zu und fragt sie, wann und zu welchen Konditionen wir das Museum besichtigen dürfen. Die Signora freut sich, guckt mich eindringlich an und sagt: „Ma in italiano, d’accordo?“ Ich nicke eifrig, Gitti verkneift sich ein Grinsen.

Die Signora verschließt die Tür, durch die wir das Haus betreten haben mit einem Schlüssel. Ich verstehe: Es geht jetzt los. Exklusiv, nur für uns beide. Sie bittet uns über eine schmale Stiege in den ersten Stock und beginnt, von Orgosolo, seinen Bewohnern und deren Traditionen zu erzählen. Die nächste Stunde folgen wir ihr von Raum zu Raum, von Stockwerk zu Stockwerk, bis hinauf unters Dach, wo sie bis heute viele Köstlichkeiten lagert. Sie erklärt die Tracht der Hirten, zeigt uns die Gerätschaften, mit denen das typisch sardische Brot hergestellt wurde. Die Signora spricht langsam, sieht mir dabei mit ihren ausdrucksstarken Augen eindringlich ins Gesicht und beobachtet genau, wann ich erfasst habe, wovon sie redet. Gitti übersetzt, was sich mir nicht erschließt.

Auf dem Rückweg nach unten bittet uns die Signora nochmal in die Küche im ersten Stock und stellt sich ans Fenster. Sie macht uns auf eine Ablaufrinne aufmerksam, die das an den Fensterscheiben kondensierte Wasser sammelt. In der Mitte ist sie etwas abgesenkt. Und dort zeigt die Signora auf ein Loch. Durch dieses Loch in der Wand kann das Wasser nach draußen abfließen. Stolz richtet die Signora sich auf, nimmt Daumen, Zeige- und Mittelfinger ihrer rechten Hand zusammen, führt sie an ihre Nase und verkündet triumphierend: „No Muff!“

Zum Schluss geht es in den Keller. Hier hat die Signora einen langen Tisch aufgebaut, darauf stehen schier unendlich viele Flaschen. Es gibt auch ein kleines Tablett mit Likörgläsern. Jetzt wird sie feierlich und kredenzt uns zuerst einen Myrtelikör, dann einen Limoncello und danach noch einen anderen Likör aus gesunden Kräutern, alles selbst gemacht. Mir steigt schnell der Alkohol in den Schädel, aber da müssen wir jetzt durch.

Wieder zurück im Erdgeschoss bezahlen wir die Führung und stocken den verlangten Betrag ordentlich auf, so schön und interessant wurden wir noch nie durch ein Museum geleitet. Die Signora greift uns beide an den Händen, richtet den Blick nach oben und spricht zum Abschluss noch eine Art Gebet. Gitti und ich sind sehr gerührt.

Als wir am Abend auf der Terrasse des Hotels noch einen Wein trinken, setzt sich die Direktorin des Hotels zu uns. Wir berichten von unserem Ausflug. „Ja, mit der Signora haben wir auch schon gebetet und vor Rührung ein wenig geweint!“, ruft sie aus und bestellt noch eine Runde.

Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. Mauro und Gianna

    Danke für die Möglichkeit an eurer Abenteuerreise teilnehmen zu dürfen! Du hast es sehr lebendig geschildert liebe Miri. Jede Station konnten wir deutlich sehen und fühlen, als wären wir vor Ort!
    Die Sehnsucht nach der Ferne ist geweckt 🤔

    Danke für diesen kurzen Abstecher aus dem Corona Alltag 🙏🏻

  2. Ute

    Liebe Miri, an Sardinien und speziell Orgosolo haben wir auch wunderschöne Erinnerungen. Schade, dass wir nicht gemeinsam dort waren. Danke für die Signora – bei ihr sind wir nicht gewesen und deine Geschichte über sie ist ein guter Grund, nochmal dorthin zu reisen 🌞💛😘😘

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