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Perspektivwechsel

Immer, wenn ich was nicht verstehe, mich über Leute aufrege oder schier verzweifle, weil die Dinge eben nicht so sind, wie ich sie gerade jetzt gerne hätte, ist die Zeit reif für einen Perspektivwechsel. Das Prinzip ist einfach und effektiv, in mehr als 90% der Fälle geht es mir danach besser.

„Der frühe Vogel fängt den Wurm!“, nervt mich jemand, der gerade einen furchtbar frühen Termin mit mir vereinbaren will. Ich bin kein „early bird“ und hoffe auf Gnade! Ich schlafe gerne, auch gerne länger, als es dem frühen Vogel lieb sein kann, und 6:30 Uhr finde ich zu früh für eine blöde Besprechung außer Haus. Mein Widerstand regt sich – und dann fällt mir der Perspektivwechsel ein. Ich kann jetzt locker kontern.

„Der frühe Wurm wird zuerst gefressen!“, entgegne ich also und bestaune mein Werk in dem bis eben noch so angespannten Gesicht meines Gegenübers. Er ist verblüfft und muss lachen, er kann sich dem Charme des Perspektivwechsels offensichtlich nicht entziehen. Die Situation ist jetzt entkrampft, wir suchen gemeinsam nach einem guten Kompromiss, und das Ergebnis kann sich sehen lassen: Ich gewinne ganze eineinhalb Stunden Schlaf!

Manchmal ist es aber auch nicht ganz so leicht. Ich hatte vor vielen Jahren mal einen Chef-Chef, der in rekordverdächtig kurzer Zeit den halben Laden gegen sich aufgebracht hatte. Irgendetwas an seiner Art war so provokant, dass sogar schon ein Kollege mit hochgereckter Faust auf ihn zugestürmt war und nur mit Mühe von zwei ebenfalls anwesenden Kollegen in seinem Vorhaben gebremst, regelrecht abgepflückt und gebändigt werden konnte. Das verbreitete sich natürlich schnell über den Flurfunk. Welch ein Fressen für die meisten derer, die schon insgeheim darauf gehofft hatten, dass mal jemand diesen Kerl in die Schranken weist!

„Was genau ist an unserem Chef-Chef eigentlich so furchtbar?“ Diese Frage diskutierte ich mit meinem Kollegen Hajo, mit dem ich mich in die hinterste Ecke des Lagers zurückgezogen hatte, den einzigen Ort in der ganzen Firma, an dem man mal ungestört reden konnte. „Ha, ich brauch den nur sehen, wie er so durch die Werkstatt läuft,“ ereiferte sich Hajo bereitwillig, „da könnte ich dem schon an den Kragen gehen! Wie kann man nur so sein?“ „Ja, der hüpft so, stimmts?“ „Genau! Wie ein Schuljunge, und zwar einer von den Rotzlöffeln, die noch nie einer leiden mochte!“ Ich hatte eine Idee: „Du, wir verstehen bestimmt besser, wie der drauf ist, wenn wir uns mal reinversetzen.“ „Wie jetzt?“, fragte Hajo.

Statt eine Antwort zu geben, folgte ich meinem Impuls und versuchte es einfach mal. Ich richtete mich auf, zog die Schultern etwas hoch, streckte den Hintern zu einem Entenpo heraus und ging betont auf den Ballen wippend ein Stück auf Hajo zu. „Sooo,“ äffte ich die etwas höhere Tonlage des Chef-Chefs nach, wirbelte mit dem rechten Zeigefinger eine zweistufig von unten nach oben verlaufende Spirale in die Luft, und zeigte mit dem anschließend nach oben aufgerichteten Finger direkt auf sein Gesicht, „wie ist denn hier der Stand?“

Dabei fühlte ich in mich hinein. Ich war jetzt der Chef, und zu meiner eigenen Überraschung fühlte ich mich ganz schön unsicher. Hajo stolperte ein Stück nach hinten, geriet unwillkürlich in eine Abwehr- und Rechtfertigungshaltung und begann, irgendetwas zu stammeln. Dadurch fing ich mich, konnte die Chef-Chef-Rolle ganz ausfüllen und legte nach: „Wann bekomme ich endlich die Aufstellung?“ Hajo lief rot an und verknotete sich wie von selbst in Details.

Wir waren beide verblüfft, wie sich die gespielte Situation verselbstständigt hatte. „Ich will auch mal!“, rief Hajo. Er überlegte kurz, dann lehnte er sich mit der rechten Schulter an einen Regalpfosten und steckte die linke Hand mit der Handfläche nach außen in den hinteren Hosenbund. Den linken Ellbogen zog er ganz nach hinten, so dass sich im Oberkörper Spannung aufbaute. Mit der ausgestreckten rechten Hand hielt er mir ein imaginäres Blatt hin, als wollte er, dass ich darauf irgendwas lese. „Können Sie mir das hier mal erklären?“, rief er, seine Stimme überschlug sich dabei fast.

Wir starrten uns an und waren beide geschockt. Beim Imitieren der ungeliebten Gesten und Formulierungen hatten wir erspürt, wie es in dem Chef-Chef wohl aussah. Hui, da tun sich echte Abgründe auf! Es muss ein Bild für die Götter gewesen sein, wie wir so durchs Lager stolzierten und mit den Armen fuchtelten. Zum Glück hat uns niemand gesehen… glaube ich zumindest.

Bei der nächsten Begegnung mit dem Chef-Chef konnten sowohl Hajo als auch ich viel ruhiger und gelassener reagieren, die Erinnerung an die Parodie im Lager huschte sogar als freundliches Lächeln über unsere Gesichter. Das Verhältnis zum Chef-Chef war ohne dessen Zutun plötzlich irgendwie geklärt und nicht mehr durch unnötige Spannungen und Verstimmungen getrübt. Wir konnten ihn jetzt nicht besser leiden, so weit ging es nun auch wieder nicht, aber seine Art war für uns nicht mehr so relevant, sein blödes Verhalten provozierte uns fortan nicht mehr.

Privat probiere ich das auch immer mal wieder aus. Dazu darf ich jetzt natürlich kein Beispiel bringen, so viel Diskretion muss sein. Bitte fragt mich nicht danach! Meine Empfehlung: Probiert es aus, Ihr werdet jede Menge Spaß haben, versprochen! So manche Eurer und meiner Macken habe ich richtig liebgewonnen – und vielleicht geht es Euch ja auch so.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Mauro und Gianna

    🤭🤔😬🤣🙃🤸🏼‍♀️😮😂😂😂……..
    ….selbst ausprobieren hat echt was 👍🏻
    wir wünschen auch allen die es lesen sehr viel spaß beim nachahmen…..
    einfach machen 😀😀
    Danke Miriam für diese Anregung und Motivation!

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