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Pokerface und Blume

Karl schraubt an einem Gerät herum. Leise flucht er vor sich hin. Sein ganzer Körper drückt aus, wie es ihm geht. Sein Kopf ist rot, die Stirn tropfnass, das Shirt ist hochgerutscht und gibt den Blick frei auf sein Bauarbeiterdekolleté. Unter seinen Armen deuten dunkel verfärbte Stellen des Shirts auf feuchte Klimazonen hin. Gerade reckt er den rechten Arm nach hinten oben und versucht, auf dem kleinen Wagen, der schräg hinter Karl steht, das passende Werkzeug zu ertasten. Das kann man ja nicht mit ansehen!

„Was brauchst Du?“, frage ich ihn. Damit hat Karl nicht gerechnet. Er zuckt zusammen, sein Blick läuft erstaunt entlang seines ausgestreckten Arms, in dessen Flucht ich stehe und ihn anlächle. Mit der Hand des linken Arms versucht Karl, das Blech, das er gerade mühsam da unten hinten am Gerät ausgerichtet hat, in Position zu halten. „Den Inbus!“, stößt er hervor. Auf dem Wagen liegen zwei davon in unterschiedlicher Größe, also halte ich einen der beiden Inbusschlüssel hoch und frage: „Den?“ Offensichtlich habe ich die passende Größe erwischt. Wortlos schnappt Karl sich das Werkzeug, schwingt den rechten Arm zum linken herunter, schraubt dann seinen Oberkörper noch ein wenig weiter unter das Gerät und zieht die Schraube an. Mein Ingenieursherz blutet.

Als Karl wieder in voller Größe auf beiden Beinen steht, gucke ich mir das mal genauer an. Im Sinne des Erfinders kann es ja nicht sein, dass man sich bei der Montage derart verbiegen muss! Ich frage Karl ein bisschen aus und versuche so, sein blutendes Monteursherz zu würdigen. Vielleicht lässt sich sein Schmerz ja lindern. Vielleicht muss auch die Konstruktion verbessert werden.

Im Laufe der folgenden Unterhaltung schildert Karl mir, was da von ihm verlangt wird und wie wenig Ahnung der sesselpupende Konstrukteur hat. Karl untermalt alles, was er da sagt, mit ausladenden Gesten. Echt großes Kino!

Genaues Hinsehen hilft ja oft. In der Mathematik zum Beispiel gehört genaues Hinsehen zu den üblen Tricks, die mein Freund Tom und ich immer kurz „üT“ genannt haben und die man unbedingt anwenden muss, wenn man komplizierte Rechnungen schnell und elegant lösen möchte. Karl ist leider nicht ganz so geübt im genauen Hinsehen. Dafür kann er andere Dinge unnachahmlich gut, die mich total überfordern würden. Am Ende dieser Unterhaltung jedoch kristallisiert sich für mich heraus: Karl hätte sich gar nicht so extrem verrenken müssen!

„Was machst Du da für einen Quatsch? Hör sofort auf damit!“ Diese und vor allem noch weitere Sätze liegen plötzlich ganz vorne auf meiner Zunge. Sie wollen mit aller Macht hinaus in die Welt und dann geradewegs hinein in Karls Ohr. Aber das geht jetzt nicht. Auf gar keinen Fall darf auch nur ein einziges dieser Wörter jetzt die schützende Mundhöhle verlassen. Damit zerstöre ich alles, was Karl mir an Vertrauen entgegenbringt. Dann erzählt Karl mir nie wieder etwas von seinen Problemen! Also reiße ich mich zusammen. Zur Sicherheit presse ich fest die Lippen aufeinander, während ich angestrengt darüber nachdenke, wie es weitergehen soll.

Wer jetzt genau hinsieht, der weiß, dass mir etwas auf der Zunge liegt. In meinem Gesicht lässt sich nämlich sehr leicht lesen. Leider. Ich muss also gar nicht erst versuchen, ein Pokerface aufzusetzen. Das gelingt mir sowieso nicht so gut.

Genau deshalb ist es mir aber so wichtig, das Vertrauen meiner Mitmenschen zu gewinnen. Die sollen nämlich wissen, dass ich zwar mal spontan und weithin sichtbar nicht begeistert bin, aber dennoch weiter zuhöre. Ich versuche also, mir eine gewisse Offenheit zu bewahren. Dazu gehört auch, Sachen nicht zu schnell mit großer Geste vom Tisch zu fegen. Ich kann weiter zuhören und meine eigenen Ideen oder Interessen zugunsten einer möglichen anderen Lösung nochmal auf den Prüfstand stellen. Wenn Du weißt, dass ich nochmal nachdenken werde, dann ist egal, was mein Gesicht so schnell ausgeplaudert hat. Weil ich wenigstens versuche, Deinen Punkt zu verstehen, Deine Gedanken nachzuvollziehen und fair zu bleiben, wirst Du mir vielleicht irgendwann Dein Vertrauen schenken. Das ist ein ganz wertvolles Geschenk! Also ist es am Ende doch gut, dass ich die Nummer mit dem Pokerface nicht beherrsche, oder?

Aber was mache ich jetzt mit Karl? Ich muss Stellung beziehen. Doch: Was ich jetzt auch sagen könnte, ganz ohne Verletzung seiner zarten Seele bekomme ich es nicht hin. Ich frage mich also, was noch so in meinem Werkzeugkasten der Kommunikation herumliegt. Nach eifrigem Stöbern finde ich – Blumen! Ganz viele Blumen! Und jetzt greife ich innerlich beherzt nach einer von denen und sage durch die Blume: „Du, Karl, welchen Finger klemmt man sich eigentlich ein, wenn man zuerst da hinten …?“ Weiter komme ich nicht.

Karl unterbricht seinen Redeschwall, bückt sich und folgt meinem Fingerzeig. Karls Schultern sacken fast unmerklich ein Stück nach unten. Dann aber kratzt Karl sich über dem Ohr und auf seinem Gesicht breitet sich ein Grinsen aus. Karl hat nämlich Humor und nimmt es sportlich. Deshalb lächelt er jetzt auch sein wärmstes Lächeln und sagt augenzwinkernd: „Aber dann hätte ich doch kein Problem. Das kannst Du doch nicht mit mir machen!“ Er reckt einen Daumen nach oben und entschwindet in Richtung Lager.

Im Anschluss denke ich noch eine Weile über die Konstruktion nach. Nicht nur Karl wird hier auf die falsche Fährte gelockt. Ich vermute, die anderen Monteure hätten an dieser Stelle auch Schwierigkeiten. Eine bessere Lösung fällt mir im Moment aber auch nicht ein. Vielleicht spreche ich mal mit dem Konstrukteur.

Am nächsten Tag erwische ich Karl dabei, wie er einem seiner Kollegen zeigt, wie man elegant an die Stelle herankommt. Ich freue mich leise und verdrücke mich unauffällig.

Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. Thomas

    Guten Morgen, sehr schön und viel diplomatischer ausgedrückt, als ich das vor diesem wertvollen Artikel gekonnt hätte.

    Viele Grüße und vielen Dank für Artikel und den Tipp

  2. Mauro und Gianna

    Diesmal einfach nur danke für die Story,
    danke für die Freude darauf, Woche für Woche!

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