Das Wetter ist gerade so schön, dass es Gitti und mich nach ein paar trüben Tagen endlich wieder aus dem Haus lockt. Wir schnappen uns die Walking-Stöcke und machen uns auf den Weg zur Pizzeria. Unterwegs dreht sich unsere Unterhaltung um Relationen aller Art.
Ich schwalle sie voll: „Immer wieder schreibe ich, dass es auf den Kontext ankommt, in dem etwas steht. Mir ist das wirklich wichtig. Eine faire Bewertung bildet schließlich eine gute Grundlage für das Gelingen einer im Ergebnis dann gelungenen Kommunikation. Schon steht es da: Gelungen! Und sogleich wirkt es in allen, die daran mitgewirkt haben. Gelungen, das ist erstrebenswert und löst ein gutes Gefühl aus!“
Gitti gibt zu bedenken: „Vorsichtige Leute fordern spätestens an dieser Stelle eine deutliche Einschränkung der Aussage ein. Man weiß ja nie, worauf man sich da sonst noch so einlässt, wenn man jetzt keinen Widerspruch einlegt!“ Ihr Gedanke erschließt sich mir sofort. Solch ein Veto dient der Absicherung. Es schützt hoffentlich vor den nächsten Erfahrungen mit misslingenden Situationen. Fragen über Fragen stellen sich dem guten Gefühl von eben jetzt mit aller Vehemenz in den Weg. Ist die Kommunikation auch gelungen, wenn nur einer der Gesprächspartner damit zufrieden ist? Wenn er den anderen regelrecht hereingelegt hat? Hat er miese Tricks angewendet, die den anderen sprachlich oder emotional in die Irre geführt haben? Ihn zuerst in Sicherheit gewogen und dann gnadenlos aufs Kreuz gelegt?
Gitti fährt schnell ihren rechten Arm aus, um mich noch rechtzeitig von meinem schnurgeraden Weg wegzuschubsen, auf dem ich geradewegs in den nächsten Haufen Hundekot getreten wäre. Das war knapp! Wir nehmen unser Thema wieder auf.
Ist das Misstrauen in einem Menschen einmal gesät, so braucht es nicht mehr viel, um weitere Katastrophen zu nähren. Misstrauen ist ein sehr genügsames Pflänzchen. Es wächst wie Unkraut!
An dieser Stelle spielt es kaum eine Rolle, ob der vermeintliche Übeltäter nur etwas übersehen hat oder sich nicht ausreichend Mühe damit gegeben hat, die Perspektive des anderen gleich mitzudenken. Vielleicht ist er in eine alte Kränkung hineingestolpert und hat dort denkbar ungeschickt alles nur noch schlimmer gemacht. Vielleicht hat er sich das Misstrauen aber auch einfach verdient, weil er in Wahrheit tatsächlich übel drauf ist. Wer weiß das schon? Das Misstrauen sorgt jedenfalls ab jetzt zuverlässig dafür, dass alles aus der aktuellen Einschätzung heraus auf zusätzliche Beweise abgeklopft wird, die das Misstrauen weiter anwachsen lassen. Gegenbeweise sind zunächst einmal nicht so interessant. Das Misstrauen mag eher wachsen als schwinden, das liegt in seiner Natur.
Neues Vertrauen muss man sich mühsam erarbeiten – und das gelingt nur gemeinsam mit dem, dessen Misstrauen man gesät und genährt hat.
Oder eben auch nicht, schließlich kommt es auch darauf an, ob beide Parteien überhaupt noch an neuem Vertrauen interessiert sind.
Gitti und ich erinnern uns an eine Bekannte, deren Verhältnis zu „mein“ und „dein“ sich doch deutlich von dem unterschied, was wir für gelungen gehalten hätten. Aus unserem Haushalt verschwanden damals wortlos ein paar Dinge. Wir fanden heraus, wohin die Dinge verschwunden waren. Es gab ein klärendes Gespräch, in dessen Verlauf wir erfuhren, dass wir die Eigentumsverhältnisse in Relation zum materiellen Wert der Dinge viel zu eng bewerten und uns somit über Kleinigkeiten aufregen. Die Bekannte erfuhr etwas über immaterielle Werte und über Grundsätze. Eine Zeitlang versuchten wir, den Kontakt zu halten und das Vertrauen neu aufzubauen. Leider fiel uns immer wieder als erstes der Name der Bekannten ein, wenn wir etwas suchten. Manches Mal hatten wir den gesuchten Gegenstand in Wahrheit nur verlegt. Am Ende gelang es uns nicht, das wohl genährte Misstrauen auszuhungern. Der Kontakt verlor sich mit der Zeit.
Relationen sind wichtig, findet Gitti. Sie beschreiben die Verhältnisse und damit die Beziehungen, die zwischen Dingen oder Menschen bestehen. In der Mathematik ist von Anfang an stets klar, ob die Dinge etwas miteinander zu tun haben oder nicht. Man kann klare Kriterien formulieren und damit beschreiben, wie die Beziehung zueinander ist. Es geht um Zugehörigkeiten zu Mengen, um Klassen, um Größenverhältnisse. Treten bestimmte Eigenschaften zusammen auf, zieht der Mathematiker bei passender Fragestellung klar definierte Schlüsse. Gitti und ich stellen fest: Weiche Interpretationen gibt es in diesem Zusammenhang zunächst einmal nicht. Aber auch dafür hat der Mathematiker sein Handwerkszeug: die Wahrscheinlichkeit und die Quantentheorie.
Ich nehme den Faden auf und bemerke: „Genau an dieser Stelle vermenge ich bereitwillig meine unscharfe, von Launen getriebene Interpretation dessen, was Du da gerade tust, mit angeblich messerscharfen und unfehlbaren Schlüssen, die ich sogleich selbstherrlich daraus ziehe. Ich bewahre mir eine gewisse Eigenkontrolle, indem ich versuche, alles nochmal aus einer anderen Perspektive heraus zu betrachten. Aber nur, wenn es mir wenigstens ein bisschen wichtig ist, ob mein Urteil auch richtig ist.“
Gitti ist offensichtlich irritiert ob der scheinbar impliziten Anklage, dass sie gerade irgendetwas tut, an dem sich etwas aussetzen ließe. Aber sie fängt sich sogleich und antwortet kurz und prägnant, wie ich es von ihr kenne: „Das will ich hoffen!“ Ihr Unterton hat etwas latent Bedrohliches.
Wir sind in der Pizzeria angekommen. Der Ober erblickt Gitti, strahlt sie an und ruft: „Hallo Schnuckelchen! Schön, dass Ihr da seid!“
Wollen wir heute Bier oder Wein? Gitti überlegt, was weniger Alkohol enthält. Bier natürlich! Nur halb soviel wie der Wein!! Ich gebe zu bedenken, dass 0,75 Liter Bier genauso viel Prozent haben wie 0,375 Liter Wein. Ich meine natürlich Volumenprozent und sage: „Deinem Körper ist es egal, ob Du ein großes und ein kleines Bier trinkst oder eine halbe Flasche Wein!“ Gitti kontert: „Ja, ja, relativ gesehen, ich weiß schon. Mir aber nicht!“
Wir bestellen Bier und leckere Pizza, lassen es uns schmecken und plaudern den restlichen Abend genüsslich über unsere merkwürdigen schrulligen Eigenschaften. Nach dem Essen kredenzt der Ober uns noch einen tollen Williams Christ, der unsere Kehlen wärmt, bevor wir mit unseren Walking-Stöcken in Richtung unseres Zuhauses aufbrechen. Draußen finden wir es jetzt relativ kalt, aber Taxi fahren ist echt keine Option!