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Schlau faul sein

Vor Georg liegt ein riesengroßer Haufen Arbeit. Auf den ersten Blick sieht es nach Fleißarbeit aus. Puh, das Thema könnte ihn noch ein paar Tage begleiten, denn dieser Haufen lässt sich nicht so schnell wegschaufeln. Und die Hütte brennt, das muss schnell erledigt werden, sonst wird es teuer. Für Georgs Firma, für die Kunden, irgendwie für alle. Der Druck steigt. Aber Georg lehnt sich im Stuhl zurück, reckt beide Arme langsam nach oben und spreizt seine Finger, bis die Gelenke leise knacken. Dann legt Georg beide Hände in den Nacken. Und in dieser Position verharrt er. Eine geschlagene Stunde lang!

Georgs Chef kommt vorbei. Er hat von dem Fall gehört und möchte wissen, wie der Stand ist. Georg bewegt sich keinen Millimeter. Er sagt nur leise in den Bildschirm hinein: „Ich bin dran.“ Sein Chef kennt ihn gut, er weiß, was das bedeutet, und er geht wieder.

Georg arbeitet in der IT-Abteilung seiner Firma. Er muss sicherstellen, dass die Daten konsistent sind, dass die Programme reibungslos laufen, dass die Kollegen arbeiten können. Georg ist geduldig. Und er weiß genau: Manchmal lohnt es sich wirklich, erstmal gründlich nachzudenken! Von außen betrachtet macht so etwas natürlich nicht immer einen guten Eindruck. Schließlich sitzt Georg scheinbar nur faul da und macht offensichtlich – nichts. Und vor ihm liegt vorwurfsvoll dieser Haufen. In diesem Fall liegt der Haufen da nur virtuell, denn was Georg machen muss, sieht man später zunächst nur in irgendwelchen Daten. Genaugenommen sieht nur der etwas davon, der weiß, wo er hingucken muss.

Aber diese Daten wirken ja auch in die reale Welt hinaus. Wäre das nicht so, würde sich auch niemand die Mühe machen, solche Daten überhaupt zu erfassen und zu pflegen. Die meisten Leute, die von dem „Datenschiefstand“, mit dem Georg es heute zu tun hat, betroffen sind, wissen noch nicht einmal, dass Georgs Haufen und er überhaupt existieren.

In Georg sieht es nicht so ruhig aus, wie von außen betrachtet. Seine Synapsen feuern Impulse durch Georgs Hirn. Er analysiert, was passiert ist und überlegt, wie er Abhilfe schaffen kann. Die Fantasie hilft beim Ausschmücken der Idee, die da gerade in ihm entsteht. Sein Konzept entsteht leise und Georg skizziert es zunächst auch nur in Gedanken. Wie ein Schachspieler denkt er verschiedene Szenarien durch. All das findet nur zwischen Georgs Ohren statt, deren Position sich die ganze Zeit über um kaum einen Millimeter verändert. Wer vorbeiläuft, sieht nur, wie Georg auf den dunklen Bildschirm starrt, ab und zu den Mund einen Spalt weit öffnet und dann seine Zunge wie ein Röhrchen längs zusammenrollt.

Mittlerweile ist es Mittag. Die Kollegen schwatzen fröhlich, manche verabschieden sich gen Kantine, andere sind schon vom Essen zurück. Und Georg? Der sitzt immer noch reglos da.

Am Nachmittag gerät der Mann dann plötzlich in Bewegung. Seine flinken Finger gleiten elegant über die Tastatur, die ganze Konzentration der vergangenen Stunden ergießt sich jetzt in Programmcode. So geht das noch eine ganze Weile lang. Dann wird getestet, nochmal korrigiert, wieder getestet. Georg findet sogar noch einen viel eleganteren Weg. Wer ihn kennt, liest das in seinem Gesicht, auf dem sich ein zufriedenes Lächeln ausgebreitet hat. Am Schluss gönnt Georg sich eine kurze Massage: Je drei seiner Finger kreisen ein paar Minuten lang mit sanftem Druck über Georgs Schläfen. Dann richtet er sich in seinem Stuhl kerzengerade auf und macht eine für Georgs Verhältnisse theatrale Bewegung mit dem rechten Arm, an deren Ende er den rechten Mittelfinger geräuschvoll auf die Entertaste fallen lässt.

Zwei Minuten lang guckt Georg seinem Wunderwerk noch bei der Arbeit zu, dann verliert er das Interesse und macht Feierabend. Bis morgen werden alle Daten im Hintergrund automatisch korrigiert, der virtuelle Haufen schrumpft, bis er weg ist.

Georg weiß genau, dass es um ihn herum viele fleißige Leute gibt, die mit Leidenschaft Daten in die Systeme eingeben. Ein Haufen dieser Leute beschert Georg immer wieder solche Bereinigungs-Arbeiten. Manche davon haben keine Ahnung, dass sie hier nicht auf optimale Weise agieren. Mit Fleiß und Hingabe geben sie Unsinn ein, was das Zeug hält. Und irgendwann sind die Daten dann so verknotet, dass das Problem bei Georg aufschlägt.

Manchmal fühlt Georg sich so, als wäre er der Drachentöter, dessen Name er trägt. Dieser Drachentöter hat ja der Legende nach eine Ortschaft von dem Drachen befreit, der die dort ansässigen Menschen zunehmend terrorisierte und von ihnen immer mehr Opfer forderte. Das lief so lange, bis Georg endlich kam und den Drachen erschlug.

Am Abend liest Georg einen Artikel über einen pfiffigen IT-Kollegen. Der hat einen Job in einer Kanzlei. Diese Kanzlei hat ihr Beweismanagement in eine Cloud verlegt. Der Job des Kollegen besteht darin, für die Kanzlei irgendwelche Unterlagen sortiert zur Verfügung zu stellen, die in Gerichtsverhandlungen benötigt werden. Irgendwann erkennt der pfiffige IT-Kollege, dass seine Arbeit eigentlich eine Routinetätigkeit ist. Also tüftelt er eine elektronische Routine in Form eines Scripts aus, und seither macht dieses Script seinen Job und er kassiert weiter sein Gehalt. Inzwischen hat er die Geschichte selbst auf einer Plattform gepostet. Ich weiß nicht, ob der Mann immer noch auf der Gehaltsliste der Kanzlei steht und vielleicht inzwischen andere Aufgaben wahrnimmt oder ob sein Arbeitgeber ahnungslos weiter das Gehalt für das Script zahlt.

Unser Georg träumt in dieser Nacht sehr intensiv. Denn es treibt ihn um! Er träumt von genialen Programmen, die er für seine Firma schreibt und die heimlich ausführen, wofür er bezahlt wird. Aber: Was würde er tun, wenn er der Kollege aus der Kanzlei wäre? Würde er es aushalten, wirklich nichts mehr zu tun und sich dafür weiter bezahlen zu lassen? Würde er den ganzen Tag nur noch surfen und am Computer spielen? Würde er die neu gewonnene Zeit nutzen, um hier, in seinem realen Job, den vielen Dummen, die fleißig für seine Beschäftigung sogen, den Garaus zu machen? „Ich bin Georg, der Datenretter!“, donnert es durch sein Hirn. „Ich merze falsche Daten aus und lasse sie automatisch mit reinen, korrekten Daten überschreiben!“ Schweißgebadet wacht er vom Echo seines lauten Ausrufes auf.

Beim Zähneputzen gesteht Georg sich ein, dass er sich mit und in seinem Job wohlfühlt. Er leistet einen wichtigen Beitrag, auch wenn er niemandem erklären kann, was er da eigentlich den ganzen Tag über tut. Und ohne ihn wäre die Welt ein bisschen schlechter, das weiß er ganz gewiss. Etwas derangiert kommt Georg heute zur Arbeit. Welch eine Nacht! Innerlich wirft er sich das Gewand des Datenretters über, startet den Rechner und ist schon gespannt, welche Katastrophen heute auf ihn warten. Sein Chef kommt: „Und?“ Georg grinst ihn an. „Läuft!“

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Tom

    Jaja, der gute Georg, wir hatten ja schon über ihn gesprochen.

    So etwas habe ich in einer weniger extremen Form als bei dem Kanzlei – IT’ler auch schon mehr als einmal erlebt und die Träume von Georg kenne ich auch – wir sind da zur gleichen Lösung gekommen.

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