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Schwer in Ordnung

Ach, ist das schön, wieder einmal gemütlich eingekuschelt hier zu sitzen und zu lesen! Ich genieße die freie Zeit und entziehe mich allem, was ich sonst noch so zu tun hätte.

Es kommt, wie es kommen muss: Irgendwann muss ich aufstehen, ein stilles Örtchen aufsuchen und dort nicht weiter verwertbare Reststoffe der Kanalisation überantworten. Keine Sorge, detaillierter wird dieser Part jetzt nicht! An solchen Orten lasse ich meinen Gedanken gerne freien Lauf. Dabei ist ausdrücklich mal nicht entscheidend, was hinten rauskommt. Also bei den Gedanken …

Auf dem Rückweg zu meiner Lektüre begegne ich Gitti im Flur. „Wie liest Du eigentlich?“, frage ich sie. Schnell ist klar, dass die Frage alles andere als klar formuliert ist. Gitti weiß ja nicht, worum meine Gedanken gerade kreisen, und vor allem weiß sie nicht, was ich von ihr wissen möchte. „Liest Du innerlich laut oder leise?“, versuche ich zu präzisieren. Sie guckt mich ratlos an. Ihr Vorschlag: „Wollen wir uns nicht erstmal setzen?“

Also gut, wir vertagen unser Gespräch ein paar Minuten und kuscheln uns nun zunächst beide auf den bequemen Möbeln im Zimmer des Wohnens ein. Wohnzimmer, das ist auch so ein komisches Wort, aber dafür habe ich jetzt keine Zeit. Ich sammle mich.

Jetzt endlich geht es los. In Gedanken habe ich mir beim Lesen zugeguckt und zugehört. Wie läuft das eigentlich? Ich sitze da, meine Augen sind auf den Text gerichtet, von außen betrachtet ist alles still. Vielleicht nicht um mich herum, aber still im Sinne von: Ich mache dabei keine Geräusche. Maximal raschelt es leise beim Umblättern, also falls sich mir der Text auf dünnem Papier darbietet. Aber ist es auch in mir still?

Oft, so stelle ich fest, lese ich mir den Text selbst vor. Nur eben für andere Leute nicht hörbar. Meine Lippen bewegen sich dabei nicht, auch die Zunge liegt einfach nur so in der Mundhöhle herum. Meistens jedenfalls. Wenn ich mich sehr gründlich konzentrieren muss, dann kann es schon sein, dass alle Muskeln, die am Sprechvorgang beteiligt sind, auch hier in Bewegung geraten. Ist es um mich herum extrem unruhig, beginne ich dann doch zu flüstern. Aha, die von mir aufzubringende Konzentration spielt dabei also eine entscheidende Rolle.

Gitti sagt, sie muss darüber nachdenken. Sie liest halt einfach. Und jetzt komme ich ihr mit solchen Überlegungen und Fragen!

Es wird noch doller. Enthält der Text Passagen mit wörtlicher Rede, lese ich das dann in verteilten Rollen, also innerlich mit Stimmen in verschiedener Tonlage und Lautstärke? Lese ich die dann auch in einem anderen Rhythmus? Höre und sehe ich die sprechende Person in meinem Kopfkino? Fühle ich dabei, wie sie sich gebärdet? Empfinde ich nach, wie sich die Muskulatur der Protagonistin oder des Protagonisten dabei bewegt? Wenn es gerade zum Text passt, höre ich dann beim Lesen gar einen rheinischen Zungenschlag? Wenn Du das hier liest: Hörst Du mich jetzt sprechen?

Vorsicht! Ich war schon oft beleidigt, wenn ich ein Werk zuerst las und später dann eine Verfilmung des Stoffes sah – alles nur, weil mein eigenes Kopfkino bestimmte Details anders ausgestaltet hatte als es das Kopfkino der Filmschaffenden tat. Da sehen Personen plötzlich anders aus, hören sich anders an und bewegen sich anders. Und die Kulisse! Eine Frechheit!!

Wir groß ist eigentlich der Unterschied zwischen Vorlesen und dem Nur-so-für-sich-Lesen? Um flüssig lesen zu können, lasse ich meine Augen immer schon ein Stück vorausschauen. Mein Gehirn verarbeitet schon einmal, was ich da sehe, noch bevor ich es mir oder anderen bewusst vorlese. Ich nutze diese Vorab-Information dazu, die passende Intonation, den Sprechrhythmus und alles weitere zu finden, was dabei hilft, den Sinn erfassen zu können. Dabei müssen unglaublich viele Dinge zueinander passen!

Fachliteratur lese ich übrigens auch ganz oft innerlich laut. Und wenn der Schreiberling aus Stuttgart kommt, dann hört sich sein Text eben ein bisschen Schwäbisch an. Da dürfen die typischen Merkmale nicht fehlen. Ein „auch“ wird dann wie „ouch“ gelesen, und ein „s“ muss etwas zischiger intoniert werden, wenn es am Wortanfang steht. „So“ hört sich dann schärfer an und rüttelt mehr auf. Nicht so weich und stimmhaft, wie bei anderen Dialekten.

Gitti ist sich immer noch nicht sicher, was ihr beim Lesen so alles widerfährt. Ein kleines schlechtes Gewissen schleicht sich bei mir ein, weil ich ihr den nächsten Textgenuss damit versaue. Sie wird dabei ihre Aufmerksamkeit vermutlich nicht einfach nur dem Text widmen, sondern zusätzlich dem Akt des Lesens.

Ich stehe auf, hole einen kleinen Zettel und schreibe drauf: „Ich finde Dich auch schwer in Ordnung!“ Gitti nimmt den Zettel entgegen, liest leise und sagt laut: „Betonungen sind schon wichtig!“ Dann steht sie auf und entschwindet gen stilles Örtchen. Allein zurückgelassen frage ich mich nun, wie sie den Satz entschlüsselt hat. Stand für sie da das Kompliment, das ich ihr zu machen trachtete? Also, dass sie toll ist? Eben schwer in Ordnung? Oder hat sie den Satz mit einer anderen Betonung gelesen? Ich glaube nicht. Gitti ist ja auch nicht schwer! Sie ist toll! Und das weiß sie auch!!

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Tom

    Guten Morgen, das ist ein interessantes Thema.

    Bei Romanen tauche ich in den Stoff ein und schwebe quasi über den Köpfen der Darsteller und erlebe mit. Ich mache mir dann auch Gedanken, wenn ich mal mitten im Kapitel eine Pause beim Lesen machen muss. Wie wird es den Figuren, mit denen ich durchaus mitleide in der Zwischenzeit ergehen, wenn ich nicht dabei bin, um aufzupassen, dass den Figuren auch nichts passiert? – Genaugenommen natürlich, dass ihnen nichts anderes passiert als letztlich vom Author vorgegeben? Dazu passt, dass ich mir auch nur sehr ungern den Film zum Buch ansehe, genau wie Du Miri.

    Nur in einem Fall hatte ich da eine gute Kombination: Ich habe das Buch gelesen, den Film gesehen – und mich wie üblich über die Änderungen zur Geschichte in meinem Kopf geärgert. Dann habe ich in einer Grabbelkiste „Das Buch zum Film“ gefunden, welches nur noch sehr wenig mit dem ersten Buch zu tun hatte und mich wieder ausgesöhnt hat – es waren einfach nur zwei einander ähnliche Geschichten, nichts weiter.

    Sachbücher lese ich mir auch innerlich vor, denn geht es eben nicht darauf an, genussvoll in die Geschichte einzutauchen und dabei vielleicht das eine oder andere Detail zu überlesen oder anders zu interpretieren, sondern im Gegensatz darum, genau diese Details mit zu erfassen, zu verstehen und aufzunehmen.

    Allen Lesern viel Vergnügen beim Eintauchen und innerlich Vorlesen, habt einen guten Tag!

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