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Spazier-Kraxeln

Anfang Januar ist der perfekte Zeitpunkt, sich den Sommer vorzustellen und Flüge zu buchen. Gitti und ich wollen wieder nach Sardinien. Die letzten Male waren wir im Hotel. Mittlerweile haben wir ein paar Leute kennengelernt, und nun dürfen wir dort ein Häuschen mieten, einsam gelegen, quasi am Meer und doch in den Bergen. Ich buche also Flüge und einen Mietwagen. Unsere Freundin Tina schließt sich spontan an. Prima, das wird bestimmt toll.

Ende Mai geht es los. Der Flieger landet mit etwas Verspätung am Abend, wir übernehmen den Wagen und fahren noch etwa eineinhalb Stunden durch die einbrechende und stringent zunehmende Dunkelheit, bald am Meer entlang, der Panoramica folgend. Endlich taucht hinter einer Kurve der Hügel mit dem Castello und der Altstadt unseres Zielortes auf. Die kleinen Gassen sind erleuchtet.

Die Besitzerin des Häuschens erwartet uns am Hafen, in der Kneipe. Wir verpassen die Hafeneinfahrt und irren noch etwas herum, die Kneipe schließt in der Zwischenzeit, und so treffen wir uns davor, auf dem dunklen, jetzt leeren Parkplatz. Das Meer plätschert gegen die Kaimauer, der Vermieterin Jeep und unser Mietwagen stehen zunächst einander gegenüber, Scheinwerferlicht in Scheinwerferlicht gebohrt, erinnert die Szenerie an ein subversives Schmugglertreffen. Durch die geöffneten Fenster rufen wir uns ein „Hallo“ zu. Ja, sie ist es.

Dann steigen alle aus, umarmen sich und steigen wieder ein.

Wir fahren hinter der Vermieterin her. Es geht bald durch unwegsames Gelände, eine schmale, teils steile, steinig-staubige Piste, anfangs noch gesäumt von Schilf, weiter oben dann flankiert von Büschen und kleinen Mauern. An einer Gabelung liegt eine blaue Plastiktüte auf dem Weg, hier geht es rechts. Die Plastiktüte wird auch in den nächsten Tagen unser Wegweiser sein. Später kommen ein Mäuerchen und ein Gatter, vor dem Gatter müssen wir scharf links. Der Jeep vor uns nimmt die Kehre schnell und geschmeidig.

Die Vermieterin ist nicht mehr zu sehen. Alles Dunkel. Ich brauche mit dem mir noch nicht so vertrauten Mietwagen einen zweiten Anlauf. Dann holpern wir über weitere Steine. Hoffentlich setzt der Wagen nicht auf. Deckt die Versicherung Schäden am Unterboden ab? Ich weiß es nicht. Das ist jetzt sowieso egal. Mir ist heiß. Vor uns leuchten endlich wieder die Rücklichter des Jeeps.

Das Häuschen ist gemütlich eingerichtet. Wir lernen einen Teil unserer Mitbewohner kennen, eine große Hündin, eine kleine graue Katze und ein ebenso kleiner, karamellfarbener Kater, alle drei sehr verschmust. Tina ist begeistert, sie streichelt und strahlt. Wir trinken noch ein Schlückchen Wein. Ums Haus herum leben noch ein Esel, ein Pferd, ein paar Hühner und eine kleine Gruppe Schafe. Es gibt einen kleinen Pool und eine große Terrasse.

Am nächsten Morgen entdecken wir den herrlichen Ausblick. Der Mann der Vermieterin trifft ein, ruft „Hallo, meine Damen“ und meint damit die Schafe, die schon ungeduldig auf der Weide unterhalb der Terrasse auf ihn warten und blöken. Für uns hat er herrlich duftende Cornetti besorgt. Tina füttert die Katzen, die kleine graue hat sich über Nacht direkt mal bei ihr einquartiert.

Für einen ersten Einkauf und einen kleinen Rundgang fahren wir hinunter in den Ort. Bei Tag sehen die steilen Hänge neben der Piste noch ein bisschen steiler aus. Wir erkunden die Altstadt, die unterhalb des Castellos am Hügel klebt. Immer wieder eröffnen sich neue Gässchen, farbenfroh leuchten die Bougainvilleen, wir genießen herrliche Ausblicke, auch aufs unendlich weite, blaue Meer. Ein Traum.

Gitti schmerzen irgendwann die Füße, das Kopfsteinpflaster der steilen Gassen setzt ihren Gelenken zu. Wir finden eine Mauer. „Venenpumpe“, raune ich ihr zu. Gitti guckt mich zweifelnd an. „Echt jetzt?“ „Warum nicht?“ „Also gut.“ Sie liegt jetzt rücklings auf der Mauer, reckt beide Beine gen Himmel und wackelt mit den Füßen. Beim Einatmen zieht sie die Zehen zu sich, beim Ausatmen streckt sie sie nach oben, als könne sie das ganze Bein hindurch den Atem aus den Zehenspitzen fließen lassen, und mit dem Atem alle Schmerzen.

Ich zücke das Handy und frage: „Darf ich?“ Ich darf. Ich mache ein schönes Venenpumpen-Bild, auch der Hintergrund ist atemberaubend. In den nächsten Tagen entstehen weitere Venenpumpen-Bilder vor wechselnder Kulisse, die Aktion gerät beinahe zum Running Gag.

Wir ziehen weiter und entdecken eine kleine Taverne. Die Saison hat noch nicht begonnen, wir sind die einzigen Gäste. Eigentlich wollen wir nur sitzen und etwas trinken. Wie von alleine bestellen wir zum Bier noch etwas Schinken, Salami, Käse, Oliven, nur so zum Picken. Der Wirt enteilt, kehrt alsbald mit herrlich dekorierten Tellern wieder, und wir geben uns dem Genuss hin.

Tina ist eine erfahrene Wanderin, Gitti ist für alles offen, und ich bin als Stadtkind aufgewachsen. Wir wollen, dass jede auf ihre Kosten kommt. Eines unserer ersten Ziele wird die Punta del Giglio. Hier kann man herrliche Spaziergänge machen – Spaziergänge sind absolut was für Stadtkinder.

Am Eingang des Naturparks weist ein freundlicher Mann uns den Weg, drückt uns eine Karte in die Hand und bemerkt, dass die leichte Tour zuerst da vorne lang geht und dann… Den Rest bekomme ich nicht so genau mit. Wir laufen los, alsbald lichtet sich das Pinienwäldchen und gibt den Blick aufs schöne Meer frei.

Tina taucht plötzlich auf einem steinigen Weg nach unten in Richtung Wasser ab, dicht gefolgt von Gitti. Ich bin noch mit Fotografieren beschäftigt. Der auserkorene Weg der Freundinnen sieht steil und unwegsam aus. Das ist nichts fürs Stadtkind, ich habe Höhenangst, meine Knie werden butterweich, eine geheimnisvolle Kraft zieht meinen Körper nach unten.

„Ich kann ja auch da vorne lang gehen und wir treffen uns dann später wieder“, schlage ich vor. „Nee, das wird gleich besser, das ist schon der richtige Weg. Komm, ich halte Dich.“ Ich komme. Abwechselnd halten mich Gitti und Tina. Ich halte auch, und zwar den Laden auf. Die Büsche werden dichter, aus dem Wanderweg ist erst ein Trampelpfad geworden, bald ist eigentlich gar kein richtiger Weg mehr zu erkennen. An manchen Stellen krabble ich fast auf allen Vieren.

Tina späht immer wieder quasi als Vorhut die nächste Mini-Kraxel-Etappe aus. Ich klebe an dem kleinen Küstenstreifen. Zur Ablenkung mache ich dann doch ein paar Fotos, natürlich nur da, wo die Freundinnen mich kurz parken können, bevor es weitergeht.

Der Ausblick ist unglaublich. Das stille Meer gleicht einem großen, flachen See. Das Wasser ist unglaublich klar und ermöglicht einen tiefen Blick auf den Meeresgrund. Gegenüber liegt eine wunderbare Steilküste, deren Silhouette an eine auf dem Rücken liegende Figur erinnert, den Blick gen Himmel gewandt. Der Himmel ist tiefblau. Die Ginsterbüsche umfangen mich, irgendetwas reibt an meinen Waden.

Tina taucht wieder auf. „Ich glaube, da vorne geht’s weiter“, sagt sie und weist in die Tiefe, „da oben habe ich keinen Weg gefunden“. Wir spazier-kraxeln tapfer weiter. Irgendwann haben wir es geschafft. Wir dürfen noch ein kleines Stück auf einem richtigen Waldweg laufen, dann geht es steil und steinig nach oben, immer weiter. Die Sonne brennt. Wir kommen an einem Tisch mit zwei Bänken vorbei. Gitti und ich haben genug, wir werden hier auf Tina warten, die sich zur Spitze der Landzunge aufmacht.

Gitti und ich legen uns auf den Tisch – Venenpumpe. Wanderer kommen vorbei, ich glaube, sie kichern leise, als sie sich außer Hörweite wähnen.

Den Abend beschließen wir weinselig auf der großen Terrasse, wir gucken unsere Fotos an. Die kleine, graue Katze bucht sich schnurrend bei Tina für die nächste Nacht ein.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Mauro und Gianna

    Liebe Miriam, Du schenkst uns mit deinen Geschichten immer wieder gemeinsame Zeit.
    Wir lesen sie uns sehr gerne gegenseitig vor, wir schmunzeln, wir lachen und schalten dabei ab.
    Danke dafür!

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