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Strandgut

Das Wetter ist umgeschlagen. Das war zwar zu erwarten, aber den Übergang in Richtung Herbst empfinden wir fast immer als zu abrupt, zu früh, zu irgendwas – oder gar als Zumutung?

Nachts kuschle ich mich fester in die weiche, wärmende Decke und entfliehe dem Herbst in meinen Träumen. So ist es auch diese Nacht.

Mein Traum katapultiert mich zurück in den letzten Urlaub auf Sardinien. Ich laufe zusammen mit Gitti am weißen, von Pinienwäldern gesäumten Sandstrand der Sonne entgegen. Wir genießen die frische Brise und lauschen der Brandung. In der Ferne lacht eine Möwe. Tief atmen wir die wohltuende Meeresluft ein. Der wunderbare Golfo dell’Asinara wirkt auf uns unglaublich beruhigend und entspannend.

Vereinzelt begegnen uns Badegäste. Zwei Pferde traben mit ihren Reitern an uns vorbei. Gitti und ich bleiben immer wieder stehen, um uns am Anblick des Küstenstreifens und der Weite des Meeres zu ergötzen.

In der Ferne steht ein braungebrannter Mann. Er hält ein Fahrrad am Lenker fest und blickt aufs Meer hinaus. Seinen freien Arm stemmt er in die Hüfte. Gitti und ich kommen näher. Als wir ihn freundlich grüßen, hält er das Fahrrad ein wenig weiter vom Körper weg, nimmt die Faust aus der Hüfte und präsentiert die ganze Pracht des Rades mit einer ausladenden Geste, einem ungläubigen Blick und enttäuschtem Kopfschütteln.

Erst jetzt bemerke ich, dass das Fahrrad keinen Sattel mehr hat. Es ist pitschnass. Das Meer hat es angespült, und auf diese Weise ist aus dem einst so schönen Fahrrad Strandgut geworden.

Zu dritt stehen wir nun um das Rad herum. Abgesehen vom fehlenden Sattel ist es in einem erstaunlich guten Zustand. Wir vermissen den oberen Teil der Klingel, ansonsten ist alles dran, was ein Fahrrad so braucht. Der Bremszug hakt etwas, aber nach ein paar Zügen am Hebel bewegen sich die kleinen Bremsbacken tatsächlich doch noch auf die Felge zu. Das große Kettenblatt ist schon mächtig angerostet, dafür erstrahlen die silberfarbenen Pedalhebel in der Sonne. Auf den schwarzen Reifen mit den weißen Rändern ist sogar noch etwas Druck. Der Rahmen ist rosafarben lackiert. Der Mann, der das Rad gefunden hat, weist auf eine Stelle direkt oberhalb der Gabel. Hier prangt das Logo des Herstellers. Mit anerkennendem Kopfnicken und in die Höhe gerecktem Daumen würdigt der Mann die italienische Premiummarke. Gitti und ich stimmen ihm eifrig zu. Das hier war vor seiner Verwandlung in Strandgut ein wirklich tolles Fahrrad.

Wer wirft bloß so etwas ins Meer?!?

Etwas ratlos stehen wir noch eine Weile herum und versuchen eine kleine Unterhaltung. Der gutmütige Mann verabschiedet sich, um das Fahrrad vom Strand wegzubringen, denn da gehört es nun wirklich nicht hin.

Gitti und ich setzen unseren Strandspaziergang fort.

In meinem Traum male ich mir aus, wie das Rad ins Meer geriet. Ob es wohl in einer stürmischen Nacht am Hafen vom Kai fiel? Sofort läuft vor meinen Augen ein kleiner Film ab, zum Teil im Zeitraffer, und verwirrenderweise konsequent rückwärts.

Zuerst stemmt deshalb der freundliche Herr seinen Arm wieder in die Hüfte. Bald entfernen Gitti und ich uns rückwärts im Zeitraffer, immer schön am Wasser entlang. Das sieht vielleicht komisch aus! Dann legt der Mann das Fahrrad wieder in den Sand, kratzt sich verwundert am Kopf und tritt einige Schritte zurück. Dieser Teil läuft langsam, wie in Echtzeit.

Etwas schneller geht es, als er seine kurze Hose wieder über die Badehose streift. Dann fliegt ihm aus dem Sand ein T-Shirt in die ausgestreckte Hand. Der Mann zieht das Shirt über den Kopf. Folgerichtig folgt die Ankunft des Mannes am Strand.

Das Rad liegt eine Weile im Sand. Ein paar Wolken ziehen vorüber. Das Tempo meines kleinen Rückblicks nimmt mehr an Fahrt auf. Stück für Stück ziehen die Wellen das Fahrrad wieder ins Meer. Es wird dunkel. Als unglaublich spektakulär empfinde ich den rückwärts ablaufenden Sonnenuntergang. Das Meer gebiert den roten Feuerball. Pärchen stehen Arm in Arm am Strand und sehen dem Schauspiel zu.

Mein Blick taucht nun weiter hinten ins blaue Wasser ein. Es geht ein Stück hinab. Ich begleite das Geschehen wie ein Zaungast und bin zugleich mittendrin, umgeben vom rauschenden Meer. Die Strömung nimmt mich mit. Ich fühle mich leicht und gut behütet.

Ein gutes Stück unterhalb der Wasseroberfläche entdecke ich das Fahrrad. Da, wo der Sattel einmal gewesen sein muss, schwimmt nun ein hübsch gestreifter Wolfsbarsch. Der rosafarbene Fahrradrahmen leuchtet auf dem blauen Hintergrund, den das Wasser bildet. Es sieht so aus, als diente das Rad nun dem Barsch als Fortbewegungsmittel. Zwei kleinere Fische schweben über den Griffen am Lenker. Nach einer Weile verabschieden sich die rückwärts schwimmenden Fische. Das Rad und ich treiben weiter wie Treibgut im Meer. Es wird dunkel.

Mit einem riesigen Ruck reißt es uns plötzlich aus dem Wasser empor. Gischt peitscht an die Kaimauer, auf der ich überrascht stehe. Wasser greift gierig nach allem, was sich ungeschützt auf dem Kai befindet. Ein kräftiger Wind bläst mir ins Gesicht. Das rosa Fahrrad rutscht an mir vorbei über den Fußgängerweg. Dann trägt eine kräftige Böe das Rad über den Asphalt der Uferstraße und den schmalen Gehweg jenseits der Straße. Dort richtet sich Fahrrad auf und lehnt sich an eine Hauswand. Eine große graue Mülltonne schlingert heran und kommt davor zum Stehen. Aha, das Rad war also eigentlich zwischen Tonne und Hauswand abgestellt worden!

Ich ziehe die Kapuze meines Anoraks etwas tiefer, senke den Kopf und vergrabe mein Gesicht bis zur Nasenspitze in den warmen Schal, der meinen Hals umfängt.

Der Wind verebbt. Es wird wieder schön, die Sonne sendet wärmende Strahlen. Aus einer der Nebenstraßen biegt ein verliebtes Pärchen rückwärts in die Uferstraße ein. Eng umschlungen kommen sie vor der Tonne zum Stehen, hinter der das Fahrrad an der Wand lehnt. Ich sehe ihrer Begrüßungsszene zu und freue mich mit den beiden über ihr ersehntes Wiedersehen. Nun trennen sich ihre Wege. Sie schnappt sich ihr Rad und fährt rückwärts nach Hause, während er zu Fuß und mit erwartungsvollem Blick in die entgegengesetzte Richtung schlendert – rückwärts natürlich.

Eine kleine Sonate von Mozart ertönt. Zuerst ganz leise, dann etwas lauter. Es ist mein Smartphone, das mich musizierend weckt. Ab hier läuft alles wieder vorwärts. Muss ich wirklich schon aufstehen?

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