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Tanzend erreicht

Heute lädt der Choreograph John Neumeier zur Ballett-Werkstatt nach Baden-Baden ein. Gitti hat bereits vor langer Zeit zwei der begehrten Karten erstanden. Wir sind gespannt, was uns da eigentlich erwartet. Während der Anreise bereitet Gitti mich vor. Sie erzählt, dass der Choreograph mit seinen Tänzerinnen und Tänzern diverse Aufführungen geplant hat, die in den nächsten Tagen zu sehen sein werden. Vorab gibt es diese Ballett-Werkstatt, ín der Ausschnitte aus den Programmen getanzt werden. Wir nehmen heute also einen Eindruck mit und können uns dann vorstellen, was die Festspielhausbesucher in nächster Zeit so alles auf die Augen und Ohren bekommen.

Zum Auftakt gibt es eine Art öffentliches Training. Auf der Bühne stehen Tänzerinnen und Tänzer in Trainingskleidung an Ballettstangen und wärmen sich auf. Neben der Tanzfläche steht ein Flügel, an dem eine Pianistin sitzt. Es gibt eine Art Vortänzerin, die jeweils die nächste Bewegungssequenz vorgibt. Ich habe keine Ahnung, ob die Vortänzerin jetzt wegen dieser Bezeichnung beleidigt ist. Ich bin überhaupt nicht vom Fach. Vielleicht heißt sie auch Trainerin oder Ballettlehrerin. Möglicherweise sollte ich sie respektvoll sogar mit einem ganz anderen, bestimmt sehr wohlklingenden Begriff benennen, den ich zu meiner Schande jedoch nicht kenne. Jedenfalls macht sie vor, was sie als nächstes von den anderen erwartet. Gleich darauf nickt sie in die Runde. Alle verstehen es als: „Und bitte!“ Die Pianistin haut daraufhin leise in die Tasten und alle Mitglieder der Compagnie tanzen die Sequenz mehrmals hintereinander nach.

Das Training läuft bereits, als sich die Pforten zum Zuschauerraum öffnen und wir unsere Plätze einnehmen dürfen. Nach etwa einer halben Stunde ist der Saal gefüllt. Plötzlich und ohne für mich sichtbares Zeichen wissen auf der Bühne alle, dass jetzt Schluss ist. Sie laufen hurtig hinter die Kulissen. Wie kann man eigentlich so anmutig davoneilen? Bühnenarbeiter schlappen auf die Bühne und bauen die Folterstangen ab. Entschuldigung, das sind natürlich Ballettstangen! Ich gestehe, dass mir die Vorstellung, täglich mehrere Stunden an solchen Stangen meinen Körper ertüchtigen zu sollen, den Begriff Folterstangen in die Tasten legt. Jetzt steht er da und guckt mich vorwurfsvoll an. Augen auf bei der Berufswahl!

John Neumeier betritt die Bühne und erklärt den Ablauf des Werkstatt-Abends. Vor jedem getanzten Teil der Vorstellung beglückt er uns jeweils mit einer kurzen verbalen Einführung. Das ist Gittis und meine Chance, zu erfahren, worum es bei den gezeigten Tanzszenen eigentlich geht.

Für Gitti und mich ist das wichtig. Modernen Ausdruckstanz genießen wir gerne, da finden wir uns mittlerweile sogar schon ganz gut zurecht. Beim klassischen Ballett fehlen uns beiden die Bewegungs-Vokabeln. Es ist, als ob wir in einem fremden Land wären, in dem wir die Sprache nicht verstehen, die dort gesprochen wird. Beim klassischen Ballett können Gitti und ich die Körpersprache nicht lesen. Wir wissen nicht, welche Bewegungen was genau ausdrücken.

John Neumeier erklärt uns die Vokabeln heute auch nicht. Der gute Mann sagt, dass es wichtig ist, etwas über die Story zu wissen, die tanzend erzählt wird. Wir sollen einordnen können, worum es geht. Ob wir dabei genau das eine oder eben ein ganz anderes Gefühl haben, ist eigentlich egal. Ihm kommt es vor allem darauf an, dass wir etwas fühlen.

Gesprochene Texte werden von unterschiedlichen Menschen auch ganz verschieden verstanden oder interpretiert. Das kennen Gitti und ich nur zu gut. Selbst die reine Schriftform lässt manchmal überraschend viele Interpretationen zu – scheinbar unabhängig davon, wieviel Mühe ich mir dabei gegeben habe, möglichst exakt zu formulieren.

Bei diesen Tänzen will der Choreograph sich ausdrücklich nicht in meine Interpretation einmischen, sondern vor allem mein Gefühl anregen. Er möchte mich zur Auseinandersetzung mit den dargebotenen Situationen einladen. Die Werkstatt verzichtet auf Kostüme. Alle Tänzerinnen und Tänzer bleiben einfach in Trainingskleidung. Gitti und ich können uns ganz auf die Bewegung und die Musik konzentrieren.

Eine besonders gelungene Teil-Szene des heutigen Abends stammt aus Neumeiers Interpretation des Hamlet. Über die komplizierte Geschichte, die aus der Feder des guten Herrn Shakespeare stammt, möchte ich mich jetzt nicht im Detail auslassen. Es reicht in diesem Augenblick völlig aus, wenn man folgendes weiß:

Hamlets Onkel hat seinen Bruder ermordet, also Hamlets Vater. Vater und Sohn heißen beide Hamlet. Für das, was hier passiert, ist das zum Glück nicht relevant. Dem jungen Hamlet erscheint der Geist seines Vaters. Dadurch erst erfährt der Sohn, dass sein Vater nicht einfach so im Schlaf verstarb, sondern eben von seinem Onkel ermordet wurde. Der tote Vater schmort im Fegefeuer und sinnt auf Rache. Die kann er, tot wie er ist, natürlich nicht selbst nehmen. Deshalb erscheint er seinem Sohn und bringt diesen dazu, den Tod seines Vaters rächen zu wollen.

Die Tanzszene zeigt nun diese Situation, in der Hamlet seinem namensgleichen Sohn erscheint. Wir sehen, dass der junge Hamlet zunächst überhaupt keine Lust auf Rache hat. Alle seine Bewegungen drücken Lustlosigkeit und großen Widerstand gegen die Idee des Vaters aus. Untermalt von dramatischer Musik sehen Gitti und ich, wie der arme Tropf sich zu wehren versucht. Des Vaters Macht ist stärker.

Irgendwann sinkt der junge Hamlet auf dem Boden zusammen. Sein Vater erhebt sich hinter ihm und strahlt eine ungeheure Kraft aus. Er nimmt die Arme nach vorne, greift über dem zusammengekauerten Körper des Sohnes nach etwas Unsichtbarem, nimmt es auf, hebt es an. Wir sehen alle klar und deutlich vor uns, worum es sich handelt. Der Vater führt das kreuzförmige Gestänge mit den Fäden, an denen sein Sohn jetzt wie eine Marionette hängt. Die Tänzer zeigen uns, wie der Körper der Marionette den vorgegebenen Bewegungen folgt, des eigenen Willens völlig beraubt. Der junge Hamlet beugt sich hier dem Willen seines Vaters. Er zieht bald los, macht dessen Rache zu seiner und trachtet seinem Onkel nach dem Leben.

Schade eigentlich!

Die Nummer mit der Rache hat in der Welt am Ende leider immer nur noch größeren Schaden angerichtet. Im Kleinen wie im Großen: Wir Menschen bekommen das allzu oft nicht hin. Friedlich miteinander auszukommen, die schöne Welt miteinander zu genießen, Momente zu teilen und dem Nachbarn auch mal etwas zu gönnen, ist deshalb immer wieder Gegenstand meines kleinen Versuchs, gegen diesen Mist anzustinken.

Am nächsten Tag hänge ich meinen Erinnerungen an den spannenden Abend nach. Ich schließe die Augen. Dann lehne ich mich gemütlich zurück. In meinem Kopf erklingt wieder die schöne Musik, die ein anderes Tanzstück begleitete. Zwei Freunde tollen ausgelassen miteinander über die Bühne. Sie achten aufeinander, nehmen sich gegenseitig mit und versprühen Witz und Freude und Glück. Die berauschende Energie der puren Lebenslust, die sie gemeinsam erfüllt, geht sofort auf mich über. Unmittelbar fühle ich mich tanzend erreicht.

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