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Toller streiten

In den Wartezimmern gut betuchter Ärzte oder Juristen lagen früher traditionell diverse Hochglanzbroschüren aus. Sie berichteten von fernen Ländern oder versprachen, Wohnideen für ein besseres Zuhause zu liefern. Hier wurden Träume befeuert, die von exklusiven Reisen handelten oder sich um den Aus- und Umbau großer Villen bis hin zu den Details dekorativer Raumkonzepte drehten. Edel, hochpreisig, für die meisten unerreichbar. War das damals die perfekte Ergänzung zum klassischen Arztroman, in dem alle Klischees auf einmal bedient wurden und der dazu einlud, sich in die Welt der Reichen und der Schönen hineinzuträumen?

Diese Broschüren gibt es immer noch. Viele davon stehen inzwischen natürlich auch online zur Verfügung. Online – das ist der Ort, an dem es von fast allem viel mehr gibt, als ich je verkraften kann.

Kleiner Blick zurück: Saß man im Wartezimmer, so wurde man irgendwann aufgerufen. Dann verließ man eilig das Zimmer und ließ dort einfach neben den Broschüren auch einen Teil der frisch befeuerten Träume zurück.

Kleiner Blick auf die heute fast allgegenwärtigen Bildschirme oder Displays: Hier wirst Du von Angeboten und Anregungen regelrecht überflutet. Ungefragt drängt sich in den Vordergrund, was von Marketingexperten geschickt platziert wurde. Träume sollen auch hier zuhauf geweckt werden. Vor allem solche, zu deren Erfüllung man unverzüglich und ganz bequem einen Kaufvertrag abschließen kann. Vom Internet musst Du Dich meistens selbst abpflücken. Sonst bist Du lost – lost in Cyberspace.

Schöne Träume lassen sich leicht in Sehnsüchte und Wünsche verwandeln, und daraus entstehen dann ganz oft auch schon die Ziele, die man sich setzt und an deren Verwirklichung man vielleicht fortan arbeitet. In meinen kühnsten Träumen kann ich tolle Situationen erleben, gestalten, was immer mir gefällt und mich selbst auf eine ganz freie, zugleich aber auch unverbindliche Art ausprobieren. Selbstredend verfüge ich in solch kühnen Träumen über alle Fähigkeiten, die erforderlich sind, um die Traumsituationen gut meistern zu können. Und dann erwache ich daraus erholt, gestärkt und zufrieden.

Natürlich kenne ich auch miese Traumvarianten, die sich nur schwer verarbeiten lassen.

Ein paar meiner Träume sind schon in Erfüllung gegangen. Vermutlich werden einige meiner Träume nie erfüllt. Das ist nicht schlimm, weil es in meinem Leben bereits ein paar erfüllte Träume gibt und weil mir die Erfüllung der meisten anderen Träume gar nicht so wichtig ist. Die kleinere Variante der Träume sind Wünsche. Aus großen Träumen kann ich kleine Wünsche ableiten. Wenn viele kleine Wünsche wahr werden, bilden sie zusammen einen superschönen und wunderbar duftenden Blumenstrauß. Das macht die Wünsche so sexy.

Was passiert eigentlich, wenn meine Wunschliste einmal komplett leer ist?

Vermutlich nichts. Ich habe vor einigen Jahren einmal am Himmel eine Sternschnuppe gesehen. Zuerst ergötzte ich mich an der Schönheit ihres Anblicks. Dann fiel mir ein, dass man sich in solch einer Situation etwas wünschen soll oder darf. Von diesem Gedanken fühlte ich mich so überrascht, dass mir nichts eingefallen ist, was ich mir wünschen könnte. Über mich selbst den Kopf schüttelnd beschloss ich, mich nicht über die verpasste Wunsch-Chance zu ärgern, denn: In dem Moment muss ich wohl gerade wunschlos glücklich gewesen sein!

Schwierig wird es, wenn alle Wünsche auf der Liste derer stehen, die niemals in Erfüllung gehen werden und wenn man sich darüber völlig im Klaren ist. Lässt sich am eigenen Wunsch-Management nichts mehr schrauben, entsteht Frust.

Oft entsteht Frust sogar bereits zu einem früheren Zeitpunkt, etwa am Ende des eigenen Geduldsfadens, den man nicht mehr weiter ausleiern kann oder will und der also zu reißen droht. Frust kann genauso aus einer gewissen Langeweile heraus aufkommen.

Zu den herausragenden Eigenschaften von Frust gehört, dass er schnell wächst und über eine erstaunlich starke Triebkraft verfügt. Leider mag er auch so gerne ausgelassen werden. Streit bietet sich ihm als Ventil an und legt sich bereitwillig in die Luft. Je größer der Frust, desto heftiger der anschließende Streit? Das kommt ganz darauf an, welche Beziehung der Gefrustete zu seinem Frust unterhält. Zusätzlich spielt die Beziehung zu dem eine Rolle, bei dem man dann den Streit anzettelt oder an dem man seinen Frust auszulassen gedenkt.

Ich bin darin nicht so geübt. Das liegt an meiner Harmoniesucht. Streit ist Kampf, da geht es nicht um eine gemeinsame Suche nach Lösungen, sondern um Gewinn und Verlust, Sieg und Niederlage. Streit kann die dicke Luft, die ihn manchmal im Vorfeld ankündigt, wie ein Gewitter reinigen.

Für mich hat Streit leider immer auch eine sehr persönliche Note. Man riskiert im Streit ganz bewusst Verletzungen auf beiden Seiten. Dabei geht schnell etwas kaputt, was sich nicht so einfach reparieren lässt.

Klar kann ich bei einer Diskussion in der Sache hart und zugleich lebhaft um unterschiedliche Meinungen ringen. Im Unterschied zum Streit bleibt solch eine Auseinandersetzung auf der Sachebene. Weil die Grenze zur Beziehungsebene so leicht überschritten werden kann, versuche ich unterwegs, die Gefühle meines Gegenübers im Blick zu behalten und möglichst keine persönlichen Verletzungen zu verursachen. Manchmal gelingt es mir nicht so gut, aber meistens bekomme ich das ganz ordentlich hin.

Für mich ist Harmonie so wichtig, wie für andere Leute ein toller Streit.

Liebesbeziehungen sollten meiner unmaßgeblichen Meinung nach so gut gewürzt sein, dass sie beiden Partnern schmecken. Na ja, und vielleicht ist das Salz in der Beziehungssuppe eines anderen Paares ja der Streit. Wenn es gut läuft, gelingt es ihnen sogar, ihre anschließende Versöhnung so süß zu gestalten, dass sich die seelischen Wunden, die sie einander beim Streiten zufügen schnell und vollständig wieder schließen.

Für diese Paare liegt bestimmt irgendwo eine Hochglanzbroschüre aus. Darin finden sich neben aktuellen Trends lauter Anregungen, wie man seinen heißgeliebten Streit ganz neu und überraschend gestalten kann. Gewiss gibt es darin sogar eine extra Rubrik mit Ideen für unvergessliche Versöhnungen. Ob diese Broschüre wohl den Titel „Toller streiten“ trägt?

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