Du betrachtest gerade Uns geht ein Licht auf

Uns geht ein Licht auf

Aus dem Bad dringen Flüche. Gitti ist offenbar ungehalten. Ihren Text leiten meine Ohren an mein Hirn weiter, und das beschwert sich jetzt auch noch lauthals, und zwar weil es Gittis Laute nicht entschlüsseln kann.

Ich bin müde!

Natürlich führt mich mein nächster Weg ins Bad. Ich möchte wissen, was los ist. Mich empfangen ein stockdunkler Raum und eine über das Waschbecken gebeugte Gitti. Sie putzt in vorbildlicher Manier ihre Zähne. Ich betätige den Lichtschalter.

Nach zwei ewig dauernden Sekunden beginnt etwas genau dort zu glimmen, von wo aus an anderen Abenden und auf unsere Anforderung hin heller Schein das Bad erleuchtet. Gitti sagt etwas. Zahnpastaschaum ziert ihren Mund. Schäumt sie vor Wut?

Nein, von Wut ist die gute Gitti noch weit entfernt. Aber der Anzahl der Silben und dem Rhythmus der Laute, die durch ihren Zahnpastaschaum dringen, entnehme ich, dass sie mir bereits vorhin mitgeteilt hat, die Lampe sei kaputt. Sie ist genervt, weil ich sie offensichtlich nicht sofort verstanden habe. Also betätige ich den Lichtschalter erneut. Das zarte rötliche Glimmen erlischt. Ich geselle mich zu Gitti, und bald ziert aus purer Solidarität ein kleiner Zahnpastaschaum auch meinen Mund.

Am nächsten Morgen profitiere ich vom Tageslicht, welches bereits zu früher Stunde durch das Fenster dringt. So rückt der Gedanke, dass wir das Leuchtmittel zeitnah ersetzen sollten, ein wenig in den Hintergrund. Am Abend begegnen Gitti und ich uns wieder im Dunklen. So geht das ein paar Tage.

Dann endlich konsultieren wir unseren Fundus, werden dort aber nicht fündig – und so finden wir erst einen weiteren Tag später unseren Weg zum örtlichen Baumarkt.

Natürlich haben wir die Röhre, die da ihren Dienst versagt, als Muster mitgenommen. Am Einlass in den Markt melden wir unser Mitbringsel an, indem wir es fragend in die Höhe halten. Eine Mitarbeiterin des Marktes winkt uns durch.

Die Leuchten werden nahe des Eingangs angeboten. Wir nehmen Maß mit unserem Muster. Aus zehn Metern Entfernung stürmt ein Verkäufer auf uns zu. Als er noch etwa fünf Meter von uns entfernt ist, ruft er laut: „Sie brauchen eine Sechziger-Röhre!“

Was ist denn mit dem los? Sonst suchen in diesem Markt doch immer alle Mitarbeiter schnell das Weite, sobald sich die Kundschaft ihrer Abteilung auch nur nähert. Gitti ist genauso verblüfft, wie ich es bin.

Inzwischen steht der Mann neben uns, etwas außer Atem, aber mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht. Sogleich kommt er Gitti zuvor, indem er eine der Röhren mitsamt ihrer Verpackung dem Hängeregal entnimmt und uns anhand unseres mitgebrachten Musters demonstriert, dass die neue Röhre über die passenden Anschlüsse verfügt und die richtige Länge hat. Sein Eifer treibt ihn zu einer außerordentlichen Beratungsleistung an. Ungefragt stellt er uns die Frage, ob wir zu Hause neben der Leuchtstoffröhre einen Starter entdeckt haben. Mit dem Daumen und dem Zeigefinger seiner rechten Hand formt er einen Kreis, und mit der linken Hand zeigt er eine Länge an. Auf diese Weise möchte er uns Form und Größe des Starters andeuten und unserer Erinnerung auf die Sprünge helfen. Falls dem so sein sollte, wäre es ratsam, diesen in einem Aufwasch gleich mit zu tauschen, lässt er uns wissen.

Gitti und ich nicken. Der Mann schlägt vor, dass wir zuerst nur die Röhre einsetzen und testen, ob der alte Starter noch seinen Dienst verrichtet. Mit schnellem Griff entwindet der Verkäufer dem Regal eine Packung mit zwei Startern. Er empfiehlt uns, diese Packung bis nach dem Test noch geschlossen zu halten und den Kassenbeleg aufzubewahren. Falls wir wider Erwarten doch keinen Starter benötigen, könnten wir ihn dann zusammen mit dem Beleg zurückbringen und uns den kleinen Kaufbetrag erstatten lassen. Selbstredend verzichtet der eifrige Baumarktmitarbeiter nicht darauf, uns mit blumigen Worten sämtliche Vorteile eines so vorausschauenden Einkaufsverhaltens noch einmal zu erläutern.

Wir sind immer noch baff. Ein Kichern macht sich in mir breit. Der Blick in Gittis Gesicht verrät mir, dass sie ebenfalls hocherfreut und zugleich in hohem Maße amüsiert ist. Ich reiße mich zusammen. Wir danken dem Mann herzlich für seine Hilfe. Geradezu feierlich überreicht er uns nun noch ein Plastikkärtchen, welches wir bitte an der Kasse scannen und abgeben sollen.

Während der Verabschiedung von uns erspäht der Mann bereits die nächsten potenziellen Käufer leuchtender Waren und nimmt flugs deren Verfolgung auf. Gitti und ich verzichten für heute auf weitere Einkäufe in diesem Laden. Wir müssen uns erst einmal vom neuen Wind, der hier offensichtlich weht, erholen. Wo gibt es denn sowas?!?

Zu Hause installieren wir Starter und Leuchtmittel, setzen die Verblendung der Lampe wieder ein und ergötzen uns an dem Anblick des hellen Scheins.

Gitti und ich tauschen uns noch einmal über unser Erlebnis aus. Dabei geht uns auch dieses Licht auf: Die Geschäftsleitung unseres Baumarktes hat sich offensichtlich überlegt, wie sie die Mitarbeiter zu kundenzentrierterem Handeln anregen kann. Als Kunden sind Gitti und ich natürlich begeistert von all der Aufmerksamkeit, die uns hier plötzlich entgegengebracht wird, und wir genießen die damit einhergehende Beratungsleistung sehr. Früher hatten wir immer das Gefühl, wir würden das gelangweilte Personal nur stören, wenn wir mit Fragen aufwarteten.

Dennoch beschleicht uns beide das Gefühl, dass die Nummer mit den Beratungskärtchen dann doch etwas zu weit geht. Die Kärtchen werden an der Kasse gescannt. Sie dienen neben der offensichtlich erhofften Steigerung der Kundenzufriedenheit und des Umsatzes ganz schlicht der Leistungskontrolle des Personals. Grundsätzlich ist nichts dagegen einzuwenden, wenn sich die Marktleitung dafür interessiert, ob die Mitarbeiter ihren Job gut machen, aber hier blitzt ein enormer Erfolgsdruck durch, der sicher nicht für jeden gesund sein wird. Ob die Mitarbeiter unseres Baumarktes wohl zum Ausgleich eine kleine Provision für die Früchte ihrer Arbeit erhalten? Wir hoffen inständig darauf, dass die ergriffenen Maßnahmen langfristig auch zu einer Steigerung der Mitarbeiterzufriedenheit beitragen. Diese Chance besteht durchaus. Möge das Baumarktteam also seinen neuen Schwung behalten!

Schreibe einen Kommentar