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Variationen vom Maultäschle

Die Pandemie wütet in der Welt, neben Alexa und Cortana sprechen wir nun mit, nein, eher über Corona. Zuerst schwirrt die alte Toyota-Werbung überall herum, der bekannte Slogan verkehrt sich zu „Nichts ist unmöglich, Corona.“ Und so ist es auch.

Im Büro staunen wir über die Chinesen. Ausgerechnet aus diesem Land sieht man plötzlich viele Bilder, und zwar solche, von denen wir erwarten, dass China sie auf keinen Fall verbreitet. Die Stimmen im Büro reichen von „Ja, in China kann man so drastische Maßnahmen ergreifen, aber hier würde das ja gar nicht gehen!“ über „Richtig so, das müssten wir hier auch so machen!“ bis zu „Die verarschen uns doch, das ist doch eine riesige Verschwörung!“

Alsbald stalken alle gemeinsam und arbeitstäglich das Covid-Dashboard im Internet. Dabei starren wir natürlich alle gemeinsam auf den einen Monitor, den von dem Kollegen, der die Seite im Internet als erster gefunden hatte. Wir bauen große Anlagen für eine unserer Schlüsselindustrien, sind technisch versiert, also auch Statistik-affin. So interpretieren wir rote Punkte auf der Weltkarte und exponentiell verlaufende Kurven, garniert mit vielen, großen Zahlen. Jeder wird bald ein kleiner Virologe sein. Und noch hat das alles nichts mit uns zu tun.

Die Wochen vergehen, Corona reist zuerst mit dem Flugzeug, später dann auch mit dem Auto in unser Land. Ein Toyota? Nein, dieser Scherz ist dann doch unangemessen. Darf man sowas? Es gesellen sich noch viele unangemessene Scherze hinzu.

Die ersten Kollegen verzichten auf den morgendlichen Händedruck. Sich stattdessen gegenseitig mit dem Fuß zu berühren, ohne den anderen gleich richtig zu treten, setzt sich nicht durch.

„Kennt ihr noch den Gruß von Raumschiff Enterprise?“ Die digital Natives starren mich mit großen Augen an, als ich Zeige- und Mittelfinger sowie Ring- und kleinen Finger zusammenpresse und die Fingerpaare dann so spreize, dass dazwischen ein Victory-V entsteht. Ein paar Kollegen kennen das noch, aber ich fühle mich ein bisschen aus der Zeit gefallen. Nach der Pause sehe ich im Vorbeigehen, wie einer der digital Natives den Gruß heimlich an seinem Schreibtisch übt. Ich bin versöhnt.

Durchgesetzt haben sich große Bewegungen, einem Scheibenwischer nachempfunden, begleitet von lautem „Morgäään!!“, daneben aber auch leider so hier und da der komplette Verzicht auf den morgendlichen Gruß, auch verbal.  

Pünktlich zum Frühlingsanfang starten wir ins Homeoffice. Die IT hat mit Hochdruck an den technischen Voraussetzungen gearbeitet, und es läuft wirklich erstaunlich gut. Klar, das betrifft natürlich nur die Büro-Belegschaft, man kann ja schlecht große Maschinenteile @home montieren oder fertigen.

Wir entdecken neue Kommunikationsmöglichkeiten. Manche mögen immer noch ihren Gesprächspartner sehen, üben sich also im Videochat. Die meisten sieht man dabei aus der Frosch-Perspektive. Viele scheinen unterm Dach zu arbeiten, einige haben ihre Decke mit Holz vertäfelt. Ich habe mit Social Media nicht ganz so viel zu tun, aber alle, die auf der Straße Selfies machen, achten darauf, sich eher von oben aufzunehmen, wenigstens von vorne, keinesfalls von unten. Sie haben einen guten Grund!

Gitti hat eine ältere Cousine, die schickt immer abwechselnd kitschige Rosen-Bilder und Selfies. Auf all diesen Cousinen-Selfies sieht man von unten nach oben zuerst ein großes Décolleté, links flankiert vom nach unten ausgestreckten Arm, dann ein Doppelkinn und darüber ein sehr konzentriertes Gesicht. Die Brille ist meist heruntergeschoben, die Augen sind ein wenig zusammengekniffen. Vermutlich kann sie die Stelle, auf die sie drücken muss, um das Selfie zu schießen, nicht so genau erkennen. Den Bildausschnitt sieht sie scheinbar auch nur so ungefähr. Das letzte Selfie ist ganz besonders, da hat sie noch eine Girlande um den Hals, und hinter ihr erkennen wir Teile einer Anrichte. Von einer Vase kann ich nichts berichten, jedoch kränzt ein Strauß rosafarbener Rosen ihr Haupt. Göttlich!

Ich finde einen Schuhkarton, lege ihn auf meinen Schreibtisch und platziere das Notebook obendrauf. Neben Schuhkarton und Notebook steht der große Monitor. Die Anzeige richte ich so ein, dass ich beide Bildschirme nutzen kann, den kleinen vom Notebook und den großen daneben. Zeichnungen bearbeite ich auf der Seite mit dem großen Monitor, Explorer, Mails und Chats zeige ich auf dem Notebook an. Ich erwische mich dabei, mit dem Oberkörper nach vorne und hinten zu wackeln, um die angezeigten Inhalte besser erkennen zu können. Homeoffice-Hospitalismus.

Im Büro, also an meinem Arbeitsplatz in der Firma, stehen zwei große Monitore, da ist alles gleich groß, den Notebook-Bildschirm brauche ich in der Firma nur, wenn ich mich in Besprechungen herumtreibe. Egal, hier ist jetzt, hier ist @home. Ich ordne die Fenster auf den Bildschirmen neu an. So ist es besser. Jetzt wackle ich nur noch mit dem Kopf, rauf und runter, um den Gleitsichtbereich meiner Brille optimal zu nutzen, die meiste Zeit gucke ich oben über den Rand hinweg. Schließlich setze ich die Brille wieder ab, im Büro liegt sie auch den ganzen Tag vor den Monitoren und kommt nur zu den Besprechungen mit. Ich trainiere meine Augen, so gut ich kann. Neue Brille? Quatsch, die ist doch neu!

Mein Chef ruft an, ich teste den Videochat. Sorgfältig habe ich tags zuvor den Bildausschnitt gewählt. Hinter mir sieht man die Regale, in denen meine Ordner wohnen, darauf stehen dekorative Gegenstände, nicht zu viel Nippes, aber doch so dies und das. Auf dem Stuhl rutsche ich ein wenig herunter, damit ich geradeaus in die Kamera am oberen Notebook-Rand gucken kann. Das abstrakte Gemälde an der Wand kommt auf dem Bildschirm gut rüber, der Horizont des Bildes liegt etwas oberhalb meiner Augen.

Mein Chef und ich diskutieren eine Weile, rechts, zugleich etwas oberhalb seines Kopfes hängt ein Spiegel. Im Spiegel sieht man die Zarge der Zimmertür und darüber eine weiße, achteckige Uhr mit taubenblauem Plastikrand. Wow. Mein Blick klebt an der Uhr. Ich folge dem Ruckeln des Sekundenzeigers wie einem Pendel – und eine leicht hypnotische Wirkung setzt ein.

Leider kann ich so nur aus dem Augenwinkel auf das Stück Bildschirm gucken, das er gerade mit mir teilt und auf dessen Inhalt sich seine Rede stützt. Seufzend löse ich mich von der Uhr, sonst weiß ich später vielleicht nicht, was er von mir wollte.

Ich muss mich dringend ein bisschen bewegen. „Ist das da hinter Dir Käpt‘n Blaubär?“ Mein Chef hat die Plüsch-Wärmflasche entdeckt, die mir meine Schwester mal geschenkt hat. Die dicke Plüschnase riecht an der gläsernen Weinkaraffe, die der Käpt’n im Arm hält. Ich verrate ihm nicht, dass es im Haus noch die Hein-Blöd-Variante davon gibt.

Die Firma meldet Kurzarbeit an. Zuerst sind es für mich 30%, also arbeite ich im April an sechs Tagen „kurz“, mit anderen Worten: nicht. Draußen wütet Corona weiter, Klopapier ist zum wertvollen Gut geworden. Im Netz werden vorwiegend lustige Bilder und Videos geteilt, in denen Klopapier vorkommt.

Bekannte von uns leben auf Sardinien, ohne triftigen Grund und dazu passender Bescheinigung dürfen sie gerade gar nicht mehr vor die Tür. All das, was wir als einschränkend empfinden, ist im Vergleich zu deren Situation eher Kindergeburtstag. Sie wundern sich über uns. „Warum ausgerechnet Klopapier?“, fragen Sie via WhatsApp. Unsere Antwort fällt auf die Schnelle etwas derb aus: „Wir kommen uns damit ergebnisorientiert vor. Entscheidend ist doch, was hinten rauskommt. Oft halt heiße Luft oder Scheiße. Und für letzteres brauchen wir Papier. Ganz viel Papier.“

Als es Ende April endlich wieder Klopapier gibt, stellen wir fest, dass Edeka welches aus Italien verkauft. Die Packung ziert die Aufschrift „Carta igienica – 10 rotoli“. Ja, auch die gehen kreativ mit der Situation um und erschließen neue Lieferketten, bravo!

Wir können zurzeit weder ins Fitness-Studio noch zum Yoga. Gitti erzählt mir von einer Bilderserie, die sie irgendwo gesehen hat: „Stell Dir vor, da siehst Du einen Menschen, barfuß, aus der Vogelperspektive aufgenommen. Auf dem ersten Bild ist er sehr schlank, auf dem letzten sehr plüschig, also mit einem beeindruckend ausgeprägten Bauch, der die Füße nun fast vollständig überdeckt. Und Du verstehst sofort: bei dem, der sich nicht bewegt, schrumpfen der linke und der rechte Fuß gleich schnell – binnen weniger Wochen.“

Wir überzeugen unsere Yogis vom Online-Yoga via Webmeeting. Die ersten Sitzungen sind mühsam und ruckelig, das Bild friert öfter mal ein und der Ton wird lückenhaft übertragen. Wir üben uns in Geduld. Nach einer Weile passen alle ihre technische Ausstattung nochmal an, und jetzt überträgt der mit dem Rechner verbundene Fernseher Bild und Ton in hinreichender Qualität.

Wir schieben Tisch und Sofas zur Seite, legen die freie Fläche mit Yogamatten, Decken und Kissen aus, dehnen und verknoten unsere Glieder. Bei der Entspannung zum Schluss schlafe ich immer ein, so entspannt geht heute ein Webmeeting. Nur unsere Haare werden von Woche zu Woche zotteliger, die Friseure dürfen Pandemie-bedingt auch noch nicht arbeiten.

Im Mai erhöht die Firma die Kurzarbeitsquote auf 50%, ab Juni sind 100% angesetzt. Das bedeutet, ich arbeite ab Juni gar nicht, muss aber natürlich stets erreichbar sein, mich im Intranet der Firma auf dem Laufenden halten und binnen weniger Tage wieder arbeitsbereit antreten können.

Ich stöpsle den großen Monitor auf den privaten Laptop um und beginne, ein paar Texte zu schreiben. Der private Laptop hat noch ein älteres Betriebssystem, und ich habe zunehmend das Gefühl, das Gerät zu stören. Dieses genügt nämlich offensichtlich sich selbst und beschäftigt sich lieber mit Updates, internen Analysen und sonstigen Dingen, als mit mir. Ich will doch nur ein bisschen schreiben!

Anfang Juni erfindet der Finanzminister das „Wumms“, mit dem wir aus der Krise kommen werden. Er erinnert an die wirtschaftliche Weisheit, der zu Folge man gegen eine Krise nicht ansparen kann. Zu solchen Zeiten muss man investieren! Aha. Ich kaufe einen neuen Laptop und eine anständige Tastatur, auf der sich meine Finger nicht so leicht verknoten. Jetzt steht der große Monitor in der Mitte, flankiert von zwei Schuhkartons, auf dem linken wohnt das Firmen-Notebook, auf dem rechten mein neuer Laptop. Zufrieden tippsle ich vor mich hin.

Gitti hat einen Termin beim Autohändler, ihr Leasingvertrag ist am Ende, und sie will das Fahrzeug übernehmen. „Kommst Du mit?“, fragt sie. Klar, auch solche Termine stellen jetzt eine willkommene Abwechslung dar. „Was soll ich anziehen?“, frage ich aufgeregt. In letzter Zeit putzen wir uns auch für ein schnödes Supermarkt-Event ein bisschen heraus, man muss ja schließlich ein wenig auf sich achten.

Wir schnappen uns eine Maske und treffen geradezu überpünktlich beim Autohaus ein. Der werte Verkäufer, mit dem Gitti uns verabredet hat, weilt noch „zu Tisch“, wie seine Kollegin am Empfang zu berichten weiß, sie verspricht sein baldiges Eintreffen. Na gut, gucken wir uns also um. Nach einer Weile taucht er auf, hinter seiner Maske haben wir ihn fast nicht erkannt.

Er lädt uns ein, in der kleinen Sitzgruppe Platz zu nehmen, die seinem Schreibtisch angegliedert ist. Im Gesicht trägt er einen winzigen Stofflappen, in blassem braun, wie Milchschokolade, mit weißem Rand. Ich denke an ein Überraschungs-Ei und erlebe einen pawlowschen Reflex. Gibt es hier wohl ein Kunden-Schokolädchen? Nein, leider nicht. Wie soll ich das jetzt auch hinter die gut vertäute, quasi in mein Gesicht getackerte Maske schieben? Ich wünsche mir leckere Süßwaren und einen Reißverschluss an der Maske, wenigstens eine Art Ladeklappe.

Gitti hat eine regelrechte Autogrammstunde, sie muss auf vielen Seiten unterschreiben, wer weiß, was sie da so alles einkauft. Ich beobachte derweil den Verkäufer und das Läppchen, das lustig um sein Gesicht wandert. Zuerst hängt sein Zinken über den oberen Rand heraus. Des Verkäufers Schweiß perlt langsam von der Stirn über den Nasenrücken, bald wird er sich in den weißen Rand des Tropfenfängers ergießen.

Nein, doch nicht. Der gute Mann bemerkt es noch rechtzeitig, er richtet die schwäbische Maske, also sein Maultäschle, und zupft bald am unteren Rand herum – der Rand will sich einfach nicht ums Kinn legen. Gitti blättert um. Der Mann hebt seine Hand vors Gesicht und starrt sie eine Weile an. Jetzt sticht er in der Mitte des Täschles mit drei Fingern zu, schnappt den Lappen, zieht ihn nach vorne, zielt und lässt das Ding zurückschnappen. Na ja, schnappen ist übertrieben, die seitlichen Gummis sind schon ein wenig ausgeleiert.

Gitti blättert wieder um, seufzt und signiert in der Nähe der nächsten, mit einem Kreuz gekennzeichneten Stelle. Das Maultäschle hängt derweil traurig unter des Verkäufers Kinn. Der wiederum überreicht Gitti einen weiteren Papierstoß, „da miassad Se au nomol“, Gitti streckt sich. Das Tischlein, an dem wir sitzen, ist nur 45cm hoch, ihre Haltung erinnert an das Kaninchen aus dem Yoga.

Unter dem braun-weißen Maultäschle ist es offensichtlich heiß. Ich bekomme unter meiner Maske auch langsam die Krise, kämpfe aber meinen Freiheitsdrang nieder und sage stattdessen: „Heiß, gell?“ Der Maultäschleswirt nickt und zupft. Als Gitti ihre Autogrammstunde endlich beendet, ziert das Läppchen des Verkäufers Haupt – wie ein Sonnenhütchen.

Zu Hause finde ich drei weiße Stoff-Masken in der Post. Dem Begleitschreiben entnehme ich, dass die Corona Task Force der Firma und die Geschäftsleitung auf diesem Wege allen Mitarbeitern Masken zur Verfügung stellt, wir sollen sie heiß und regelmäßig waschen. Löblich, so finde ich, und immerhin ein Ausblick auf die Zeit nach Homeoffice und Kurzarbeit.

„Was möchtest Du heute Abend essen?“, möchte Gitti von mir wissen. „Sollen wir mal wieder Maultaschen machen? Das hatten wir schon ewig nicht mehr!“

Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. Ines

    Vielen lieben Dank für die schönen Lacher 🤣🤣🤣🤣in dieser besonderen Zeit! 🙏

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