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Vom Drang zur Eile

Die kleine Querstraße führt durch ein Wohngebiet. Sie ist eine beliebte Abkürzung, die es ermöglicht, diverse Ampeln zu umfahren. Kurz vor dem Ortsausgang mündet das Sträßchen in die Hauptverkehrsstraße. Wer in Richtung Nachbarort weiterfahren möchte, muss hier links abbiegen.

Um die Attraktivität der Abkürzung zu mindern und den Anwohnern etwas mehr Ruhe und Sicherheit zu bieten, gibt es natürlich eine Geschwindigkeitsbegrenzung. Alle paar Meter stehen zudem hässliche Betonkübel herum, mit kümmerlich wachsenden Blümchen und Gestrüpp darin. Einem Betonkübel auf der rechten Seite folgt natürlich ein Betonkübel auf der linken Seite. Die Durchfahrt wurde auf diese Weise bewusst erschwert. Wie ein Lindwurm schlängeln sich immer noch viele Autos hier durch.

An den verengten Stellen müssen sich die Fahrzeugführer im Zweifelsfall darüber einig werden, wer die Passage als erster durchfährt. Kurz vor einer solchen Stelle geben viele nochmal ordentlich Gas. Wer zuerst kommt, pocht darauf, auch zuerst weiterzufahren. Manchmal sieht man schon, dass es vor der nächsten Engstelle bereits einen längeren Rückstau gibt. Wenn man sich da auch noch reindrückt, geht bald gar nichts mehr. Zugunsten des gesamten Verkehrsflusses sollte man dann einfach mal seine Vorfahrt aufgeben.

Aufgeben? Ich etwa?!?

Ja! Warum denn nicht? Es muss doch für alle weiterlaufen! Freundlichkeit zahlt sich aus, gerade in solchen Situationen. Die Menschen danken einander mit einem Lächeln, einem Kopfnicken oder mit einem kleinen Winken.

Gitti und ich stecken gerade in dieser Querstraße fest. Weiter vorne wird fleißig gehupt. Das hilft weder den ruhebedürftigen Anwohnern noch dem Verkehrsfluss. Auf der rechten Straßenseite steht direkt neben dem nächsten Blumenkübel ein Haus. Im Erdgeschoss ist eines der Fenster geöffnet, auf dem Fensterbrett liegt ein dickes Sofakissen. Auf dem Kissen liegen ein Ringblock, eine Brille und ein dicker Kugelschreiber in XXL-Format. Der zugehörige Anwohner guckt mit verschränkten Armen aus dem Fenster. Vermutlich protokolliert er alle Verkehrsdelikte, die in seiner Straße direkt vor seinem Fenster verübt werden. Vielleicht schreibt er aber auch einen schönen Brief oder sammelt Inspirationen für seinen neuesten Roman …

Gitti und ich kommen langsam voran. Jetzt ist nur noch ein Fahrzeug vor uns. Der linke Blinker blinkt. Auf der Hauptverkehrsstraße ist reger Betrieb. In schneller Folge zischen die Fahrzeuge in beiden Richtungen an der Einmündung vorbei. Gitti seufzt und dreht die Musik etwas lauter. Wir wippen mit unseren Köpfen im Takt und summen die Melodie leise mit.

Im Wagen vor uns geht es ganz anders zu. Durch die Scheiben hindurch sehe ich, wie der Fahrer des kleinen Wagens wild gestikuliert. Die Kraft seiner Gesten überträgt sich auf seinen Sitz und regt bald sogar die Federbeine seines Autos zu Schwingungen an. Das ganze Fahrzeug wackelt. Die Beifahrertür schwingt auf. Eine Frau schält sich aus dem Wagen. Mit etwas steifer Hüfte bewegt sie sich nun auf die Hauptverkehrsstraße zu.

Rechts um die Ecke steht eine Fußgängerampel. Jetzt sehe ich, wie sich der rechte Arm der Frau bereits zielstrebig auf das gelbe Kästchen mit dem Knopf zubewegt, mit dem sie gleich ihren Bedarf an einem Wechsel der Ampelphase anmelden wird. Die Bedarfsampel verarbeitet die Anforderung erstaunlich schnell. Der Verkehrsfluss auf der Hauptverkehrsstraße kommt zum Erliegen, noch bevor die Frau den Wagen vor uns wieder erreicht. Vorausschauend hatte sie die Autotür offengelassen. Das nervt jetzt ihren Mann, der schon allein wegen der geöffneten Tür nicht einfach losbrettern kann. Er feuert sie lautstark an, sich gefälligst zu beeilen. Unterstreichend lässt er mit einem beherzten Tritt aufs Gaspedal den Motor aufheulen. Hinter uns ertönt ein von Ungeduld getriebenes lautes Hupen. Ob weiter hinter uns wohl der Anwohner seinen XXL-Kugelschreiber zückt und das Hupen protokolliert?

Der Wagen vor uns schafft es gerade eben noch, die von Hand angeforderte Ampelphase zum Abbiegen zu nutzen. Wir müssen leider anhalten und warten. Gitti und ich beraten kurz, ob wir bei der Ampel jetzt auch einen Bedarf anmelden wollen. So eilig haben wir es jetzt auch wieder nicht. Alsbald tut sich eine Lücke im Verkehrsfluss auf, und wir biegen fröhlich links ab.

Auf dem Parkplatz des Baumarktes erspähe ich kurz darauf den kleinen Wagen wieder. Wie sich die Stimmung zwischen dessen Insassen wohl entwickelt haben mag? Gitti und ich kaufen in Ruhe ein paar Kleinigkeiten ein.

Als wir wieder ins Auto einsteigen, führen die zwei von der Bedarfsampel einen weiteren Akt ihres Schauspiels auf. Sie haben Wandabschlussleisten für ihre Küchenarbeitsplatte erstanden. Jetzt passen die langen Leisten nicht ins Auto. Nach einigem Hin und Her quetscht sich die Frau unter Protest auf den rechten Rücksitz. Der Beifahrersitz bleibt nach vorne umgeklappt. Der Mann führt die Leisten diagonal durch das Wageninnere, bis sie hinten links ans Heckfenster stoßen. Ein längeres Stück ragt immer noch vorne rechts zur Tür heraus. Fluchend eilt er zur Fahrerseite, aktiviert die Zündung und lässt das Beifahrerfenster ein wenig herunter. Aus dem Wageninneren dringen laut vorgetragene Zweifel an seinem Plan. Unbeirrt begibt er sich zur Beifahrerseite. Mit etwas Mühe gelingt es dem Mann, die biegsamen Leisten beim Schließen der Tür durch den Fensterspalt zu fädeln. Als er vom Parkplatz fährt, versteckt seine Frau ihr Gesicht hinter dem hochgestellten Kragen ihrer Bluse.

Hoffentlich kommen die zwei mit ihren Leisten heil nach Hause!

„Und? Fahren wir jetzt auch endlich mal los?“, fragt Gitti. Na klar, jetzt gibt es hier ja nichts mehr zu bestaunen. Zu Bedenken bleibt: Mit einem größeren Drang zur Eile hätten Gitti und ich das wunderbare Leistenschauspiel leider verpasst.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Tom

    Liebe Miri, das ist genau mein Humor und meine Vorgehensweise – sich nicht beirren lassen und die kleinen Schauspiele und vielleicht auch Dramen genießen. die täglich um uns herum aufgeführt werden.

    Natürlich habe auch ich es mal etwas eiliger, aber man muss immer daran denken, dass die Mitmenschen vielleicht gerade einen schlechten Tag haben und sich bloß nicht unnötig über vielleicht seltsame Handlungen anderer aufregen!

    Wie immer vielen Dank für die Schmunzelstory und viele Grüße an Euch von uns!

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