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Vom Stromern

Das Wetter kommt ein bisschen trüb daher. Gitti und ich sind das nicht gewohnt. Wir leben hier in einer Region, in der die Sonne deutlich häufiger scheint als im Rheinland, wo ich aufwuchs. Gerne erinnere ich mich an diese Jahre, weniger gerne an das Wetter. In meiner Erinnerung hat sich der Rheinländer an das Phänomen zehntätigen Dauernieselns gewöhnt. So etwas zieht die Stimmung normaler Leute ja gerne mal runter. Aber nicht die des Rheinländers! Ich glaube mittlerweile fest daran, dass der tapfere Frohsinn des Rheinländers seine einzige Chance ist, wetterbedingtem Trübsinn zu entkommen.

In unserer Stadt ist an diesem Wochenende recht viel los. Eine lange Einkaufsnacht lädt zum verlängerten Shoppen ein, der Wintertraum hat seine Pforten geöffnet und auch das Riesenrad steht wieder vor dem Schloss. In den vergangenen Jahren war der Wintertraum eine Freiluft-Eisbahn mitten in der Innenstadt und lud zum Schlittschuhlaufen ein. Angesichts all der Krisen, die uns gerade um die Ohren fliegen, kann man den energieintensiven Betrieb einer solchen Eislaufbahn natürlich kaum rechtfertigen. Dennoch will man uns etwas bieten. Der Wintertraum wurde kurzerhand vom Gleiten aufs Rollen umgestellt und jetzt können die Leute sich hier auf Rollschuhen vergnügen. Es gibt auch ein paar festlich beleuchtete Buden, die schon mit Glühwein, Würstchen und Crêpes aufwarten. Man soll den Leuten nicht alles vermiesen. Ein bisschen Lametta darf sein.

Eine besondere Attraktion bildet heute ein Energy Dancefloor. Gitti hat davon in der Zeitung gelesen und erzählt mir mit leuchtenden Augen, dass man mit dem Ding tanzend Strom erzeugen kann. Das müssen wir uns unbedingt angucken! Wir streifen dicke Jacken über, verwöhnen unsere Hälse mit wärmenden Schals und trotzen dem trüben Wetter.

In der Stadt nehmen wir das Ding eingehend unter die Lupe. Der Energy Dancefloor sieht wie eine kleine überdachte Freiluftdisco aus. Die Tanzfläche besteht aus quadratischen Platten, die ein wenig wackeln, wenn man darauf herumläuft oder tanzt. So, wie Pflastersteine, die nicht mehr ganz plan auf dem Untergrund liegen. Nur ohne Stolperfallen. Unter den Platten verbirgt sich ein bisschen Technik, mit deren Hilfe das Gewackel in Strom umgewandelt wird. Nur zu gerne hätte ich die Technik genauer inspiziert, aber ich kann ja nicht einfach auf dem Dancefloor herumkriechen, die Platten anheben und zur eigenen Fortbildung schnell mal alles auseinanderreißen. Schade eigentlich! Dennoch: In dieser Disco ertanzt man sich seine Beleuchtung einfach selbst. Tolle Idee!

Die Veranstalter fanden es übrigens schade, dass sie den Strom, der bei dieser Aktion erzeugt wird, nicht einfach gleich ins Netz einspeisen können. Sie haben jedoch ein paar Sponsoren aufgetrieben und mit denen vereinbart, dass die ertanzte Stromleistung in eine großzügige Spende verwandelt und einem guten Zweck zugeführt wird. Tanzt, Ihr lieben Leute, tanzt!

Sowas stellt man natürlich nicht einfach nur hin und überlässt es uns und sich selbst. Es gibt auch ein paar Show-Blöcke. Eine Gruppe Jugendlicher zeigt, was sie in ihrer Hip-Hop-Tanzschule gelernt haben, eine Zumba-Gruppe, zusammengewürfelt aus jüngeren und älteren Frauen reißt das Publikum mit. Lägen die wackelnden Stromerzeuger auch unter dem Pflaster rund um die Bühne herum, die Stadt würde hell erleuchtet und das Riesenrad drehte sich eine Spur schneller.

Gitti und ich stromern noch eine Weile durch die Stadt. Das Wetter wird zunehmend freundlicher, endlich zeigt sich eine ermutigende Lücke in der Wolkendecke.

Natürlich träume ich in der Nacht recht lebhaft von Wackelböden aller Art. Da gibt es sicher auch Versionen, bei denen man keine Bewegung des Untergrunds bemerkt. Gitti wäre sehr dankbar dafür, sie mag feste Untergründe!

In meinen Träumen erlaufe ich mir auf dem Weg in die Küche bereits all die Energie, die ich dort auf die Zubereitung leckerer Speisen verwenden werde. Unter der Matratze betreibe ich mein kleines Schlafkraftwerk. Vielleicht nutzen die Hersteller solcher Tanzflächen ja den piezoelektrischen Effekt, bei dem mechanischer Druck in elektrische Spannung umgewandelt wird. Den Effekt haben die Gebrüder Curie schon 1880 entdeckt. Erlauben moderne Materialien und effiziente sonstige Technik jetzt eine Nutzung im etwas größeren Stil? Ich bin begeistert.

Meine Traumbilder fliegen weiter. Beim Aufwachen bin ich mir sicher: Jeder Mausklick und jeder Tastendruck machen künftig aus meinem privaten Rechner eine wertvolle Einrichtung der kritischen Infrastruktur. Vertippe Dich so oft, Du willst – es dient alles einem guten Zweck! Im Fußballstadion erhüpfen die Fans das Flutlicht. Gittis und mein Herumstromern durch die Stadt wird bestimmt auch super produktiv sein …

Und auf Bahnsteigen ertönt bald häufiger der Hinweis, dass der Zug nach Nirgendwo nicht auf Gleis 1, sondern auf Gleis 10 einfahren wird. Dann müssen sich alle beeilen, um ihren Anschluss zu erreichen, produzieren auf dem Weg Strom und werden in ein paar Minuten von einer neuen Ansage zur Umkehr bewegt. Der Zug fährt in Wahrheit nämlich doch auf Gleis 1 ein! Ups …

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