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Von Hand und Schrift

Am Tisch mir gegenüber sitzt ein Schulkind. Es spielt mit den Fingern im lockigen Haar, guckt ein bisschen in der Gegend herum und lässt dann die Frage explodieren: „Macht es eigentlich noch Sinn, das Schreiben von Hand zu lernen?“

Ja. Klar. Was sonst? Zur Sicherheit frage ich nach, ob auch wirklich die Nummer mit der Handschrift gemeint ist. So mit Stift und Zettel. Ja, ist sie. Nicht nur wegen Homeschooling und omnipräsenten Smartphones hat sich in dem Mädchen wohl der Gedanke festgesetzt, dass so etwas Antiquiertes, wie es das Schreiben von Hand darstellt, vielleicht nicht mehr zeitgemäß sein könnte. Das muss man doch sicher bald gar nicht mehr können. Wozu denn auch?

Schnell wird unsere Erörterung der Frage durch irgendeine Banalität abgebrochen, aber das bemerke ich erst so richtig, als Gitti und ich schon längst wieder zu Hause sind. Da habe ich also das Kind mit der Frage einfach sitzen lassen. Ich sollte mich schämen!

In den kommenden Monaten fällt mir die Szene immer wieder ein, aber außer einem leisen Kopfschütteln passiert in mir nichts. Schließlich zweifle ich selbst das Schreiben von Hand nicht an und das Kind habe ich seither auch nicht mehr gesehen. Blöde Ausrede!

Heute ploppt die Frage vor meinem inneren Auge wieder auf und ich beginne endlich, mich mal ernsthaft damit zu beschäftigen. Beim Versuch, mir eine Welt ohne Handschrift vorzustellen rebelliert alles in mir. Mich friert, das Gruseln treibt einen Schauer über meinen Rücken und selbst mein Geschmackssinn macht mit, denn im Mund zieht sich alles zusammen, als schmeckte ich Saures. Aber wieso eigentlich?

Vielleicht ist der Gedanke gar nicht so abwegig, wie ich ihn gerne hätte! Also gut: Was wäre, wenn …

Ohne Touchpad mit integrierter Tastatur oder Diktierfunktion könnte man nichts mehr einfach so notieren. Aber: Stift und Zettel habe ich auch nicht immer parat, also darf ich das nicht als Totschlagargument verwenden.

Das Schreiben ist eine komplexe feinmotorische Angelegenheit. Man braucht dazu eine ganze Reihe an Muskeln und muss die gut koordiniert einsetzten, um ein lesbares Ergebnis präsentieren zu können. Also ist das auch gut für’s Hirn! Eine gewisse Fingerfertigkeit lässt sich beim Musizieren sicher noch viel besser erlernen, wenngleich erschreckend viele Kinder heute nicht mehr mit Musikinstrumenten kämpfen. Wer malt, schreibt bestimmt auch gerne? Na, ich weiß nicht. Wenn die nicht musizieren, wieso sollten sie dann malen? Das Kind, das mich gefragt hat, musiziert übrigens fleißig, findet jedoch das mühselige Schreiben blöd.

Das Schreiben von Hand hat natürlich auch einen wohlklingenden Namen: Chirographie. Mir rennt die Assoziationskette mit Chirurgie, Chiropraktik und dem Chirospasmus davon. Letzterer ist ein Fingerkrampf beim Schreiben, also eine richtige Schreibstörung. Die kann beispielsweise durch Überanstrengung ausgelöst werden, kommt einer seelischen oder nervlichen Verkrampfung gleich und führt im schlimmsten Fall zu Lähmungen der Muskeln, die man zum Schreiben braucht. Das ist ja übel!

Ich starre spontan meine Hände an. Ja, beide, schließlich kann ich zur Not auch mit beiden Händen schreiben. Mit links allerdings besser in Spiegelschrift, das geht fast so flüssig, wie „normal herum“ mit der rechten Hand. Zur Sicherheit probiere ich es gleich mal aus. Ja, so ist es immer noch, nach all den Jahren, in denen ich das nicht mehr versucht habe. Ohne Nachdenken ausgeführt, sieht meine Spiegelschrift meiner normalen Schrift sehr ähnlich. Das prüfe ich sogleich, indem ich ein Foto davon mache und das Ergebnis dann spiegle. Ich hätte das Blatt auch einfach umdrehen und gegen das Licht halten können! Peinlich. Egal, jedenfalls bin ich jetzt ein bisschen stolz auf mich, auch wenn das vielleicht für nichts gut sein mag.

Jede und jeder von uns hat eine ganz eigene Handschrift, unverwechselbar und ein Fest für jeden Graphologen, der sich darüber hermacht und die vielen Dinge nach außen kehrt, die eine Handschrift über das Innere des Schreiberlings preiszugeben vermag. Zeige mir Deine Handschrift und ich sage Dir, wer Du bist? Solche Analysen dienten ja lange dem Wunsch, von typischen Merkmalen im Schriftbild auf typische Persönlichkeitsmerkmale schließen zu können. Goethe hat sich übrigens auch dafür interessiert und viele Beispiele gesammelt. Wie so oft: Die Wissenschaftler sind sich nicht einig und streiten trefflich. Ich selbst habe meine kleinen, schrulligen Ansichten natürlich auch zu diesem Thema gepflegt und glaube fest daran, dass sich die Persönlichkeit durchaus in der Schrift ausdrückt. Und die Situation, in der sich der Schreiberling befindet, spielt bestimmt auch eine Rolle. Das Ergebnis offenbart längst nicht alles, und darüber bin ich sehr froh! Vorsicht vor übertriebenen Rückschlüssen!

Halte Dich bedeckt und tippe lieber? Ich stelle mir einen Erpresserbrief vor. Die aus der Zeitung ausgeschnittenen und bunt zusammengeklebten Buchstaben verraten viel über den Autor. Also nicht nur über die Höhe der Erpressungssumme. Selbst elektronisch ausgewählte Buchstaben verraten genug – hoffe ich doch mal. Mein Herz klopft wie wild, dabei habe ich doch gar nichts gemacht! Ob sich wohl Arial oder Times New Roman oder lieber doch Calibri Light für meinen Erpresserbrief eignet? Entweder nehme ich, was voreingestellt ist, oder etwas, was ich sonst nie nehmen würde. Oder vielleicht doch etwas, was mir dem Anlass gemäß gut zu passen scheint? Algerian zum Beispiel sieht ein bisschen aus, wie die typische Schrift, die im Western immer für die Plakate verwendet wurde, die mit „WANTED“ überschrieben waren und als Steckbrief gestaltet an jeden Pfahl geklebt wurden, um die Verbrecherjagd zu unterstützen. Ich will jetzt niemanden erpressen!

Tippst Du schneller, als Du schreiben kannst? Mag sein. Denkst Du beim oder vor dem Schreiben? Hä bitte?

Es gab eine Zeit, da habe ich gerne handschriftliche Briefe verfasst. Natürlich wollte ich da keine Schmiererei abliefern oder alles nochmal „ins Reine“ (ab)schreiben, also habe ich jeden Satz zuerst in Gedanken ausformuliert. Oft sogar den ganzen Absatz. Und das so lange, bis ich sicher war, dass er so stehenbleiben kann. Heute texte ich lieber tippend. Meine Strategie ist komplett verändert. Ich tippe erstmal drauf los, lasse den Buchstaben freien Lauf und korrigiere parallel das, was ich da angerichtet habe. Das weiße Blatt gähnt mich nicht mehr so lange an, Verbindlichkeit entsteht erst Stück für Stück. Ich bilde mir ein, bessere Texte in kürzerer Zeit zustande zu bringen. Es kann durchaus sein, dass ich mir damit selbst etwas vormache, aber ich möchte auf keinen Fall mehr zurück!

Beruflich entdecke ich eine Parallele: Bevor die CAD-Systeme unsere Büros erobert haben, konstruierte ich noch auf Transparentpapier. Da habe ich zuerst auf normalem Papier kleine Bleistift-Skizzen gemacht und gründlich nachgedacht, bevor ich den ersten Strich auf dem Transparent platzierte. Während meiner Ausbildung zur Technischen Zeichnerin haben wir noch richtige Wettbewerbe veranstaltet. Gewonnen hatte, wer Tusche und Bleistift am häufigsten mit der Rasierklinge vom Transparentpapier radieren konnte, ohne ein Loch zu hinterlassen. Im anschließenden Studium spielte das nur noch eine untergeordnete Rolle, da musste ich mehr rechnen als zeichnen. Danach zeichnete ich nur noch extrem selten auf Transparentpapier. Ein virtuell gesetzter Strich muss nicht so gut im Voraus geplant und überdacht sein. Die Strategien, die ich bei der Arbeit mit dem Computer anwende, unterscheiden sich deutlich von den althergebrachten Strategien.

Ich lehne mich zurück und lasse die Gedanken weiterfliegen. Für die Forscher der heutigen Zeit wurde sogar mal ein „Graphisches Schreibbrett“ entwickelt, fällt mir dabei ein. Es erfasst Bewegungen, die ein Schreibender sowohl auf dem Papier als auch in der Luft ausführt, wertet neben den reinen Wegen auch die Geschwindigkeit und den ausgeübten Schreibdruck aus und hilft beispielsweise dabei, den Prozess des Schreibens besser zu verstehen. Insgeheim bin ich froh, dass mir keiner dabei zusieht, wie ich hier meinen Zettel bekritzle. Vorsichtshalber knülle ich ihn zusammen und werfe ihn schwungvoll in den Papierkorb.

Jetzt fällt mir ein: Ich habe mal gehört, dass sich eine Firma in Israel damit beschäftigt hat, den Rhythmus beim Eintippen eines Passworts als zusätzliche Verifikation des Users auszuwerten. Clevere Idee, finde ich, auch wenn ich meine Passworte sicher mit einem anderen Tipprhythmus eingebe, wenn ich vor einer großen Tastatur sitze, als wenn ich mein kleines Smartphone bediene, wo ich statt der vielen Finger meistens einen Touchpad-Stift verwende. Hui, meine Bank lässt mich dann bestimmt nicht mehr auf mein Konto zugreifen, nur weil ich heute in der einen Hand ein Eis halte und weil deshalb mein Passwort holpert. Gruselig! Ein Eis hätte ich jetzt aber doch gerne!!

Ich stehe auf, finde Gitti im Wohnzimmer und schwalle sie mit dem Thema voll. Am Schluss frage ich: „Kennst Du noch den lustigen Werbespot von der Deutschen Post? Da sieht man Kinder, die um ihre Privatsphäre kämpfen. In allen sozialen Medien tauchen ihre übergriffigen Helikoptereltern auf, sie posten peinliche Sachen, manchmal sogar ein: ‚Essen ist fertig! Kommst Du?‘ Und das können dann alle Freunde der Kinder sehen. Die Kinder sind genervt, geradezu verzweifelt. Dann entdecken sie einen Freiraum, in den ihre Eltern nicht eindringen können. Die Tür zum Kinderzimmer öffnet sich prompt, die Helikopter fragen: ‚Was macht Ihr da?‘, und die Kinder verbergen hinter ihren kleinen Rücken einen soeben von Hand verschlossenen Umschlag. Mit Briefmarke drauf. Die Deutsche Post blendet groß das Wort ‚Brief‘ ein.“ Gitti erinnert sich und schenkt mir ein Lächeln.

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Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Ich liebe es heute noch von Hand zu schreiben!
    Es ist eine meiner Lieblingsbeschäftigungen!
    Für mich unverzichtbar!
    Abgesehen von all den positiven Nebenwirkungen, die das Schreiben in unserem Gehirn auslöst, entspannt mich das Schreiben mit der Hand und lässt viel Raum für kreative Gedanken. (Gianna)

    Danke für deine ausführliche Beschreibung, für mehr Licht auf die Handschrift!
    (Mauro und Gianna)

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