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Vor der Eile

Tausend Sachen prasseln auf mich ein. Meine Gedanken überholen einander. Den ganzen Tag schon beeile ich mich. Aus Gründen! Ich muss dringend runterkommen! Da kümmere ich mich gleich drum. Aber zuerst …

Und so geht es hurtig weiter.

Zwischendurch fällt mir ein: „Habe ich eigentlich das Auto abgeschlossen?“

Der Gedanke schlägt ein, wie eine Bombe. Ich bewege mich keinen einzigen Millimeter. Für einen ganz kleinen Moment steht die Welt still. Dann zieht in meinem Kopf ein kräftiger Gedankensturm auf. So muss sich jemand fühlen, der nach einem Alibi für eine Zeit von zwei speziellen Stunden gefragt wird, die vor zwei Monaten datiert sind. Wann genau habe ich was gemacht? Ist das jetzt überhaupt wichtig? Selbst wenn nicht: Ist das Auto nun abgeschlossen oder nicht? Und: Muss ich noch tanken? Gitti und ich wollen doch morgen ganz früh zu einem Ausflug aufbrechen. Stehe ich jetzt auf, um den Autoschlüssel aus der Küche zu holen? Dort hängt er immer neben dem Haustürschlüssel an einem Miniatur-Garderobenständer, der eine der Arbeitsflächen ziert. Und dann könnte ich zum Auto gehen, um vor Ort herauszufinden, ob die Türen verschlossen sind und wieviel Kraftstoff sich im Tank befindet. Aber draußen nieselt es!!

Ha! Das ist die richtige Spur! Wozu gibt es Apps? Habe ich nicht neulich so ein Ding für mein Auto in Betrieb genommen? Genau! Die Standortverfolgung ist deaktiviert, weil ich nicht wollte, dass mein Autohersteller guckt, wo ich mich herumtreibe. Vermutlich interessiert sich dieser Autohersteller gar nicht für mein Bewegungsprofil, und diese Entscheidung kann ich auch an einem anderen Tag einmal überdenken. Unabhängig von der Standort-Funktion kann ich mithilfe der App von überall her gucken, ob mein Wagen abgeschlossen ist und welchen Füllstand der Tank hat.

Ich nehme das Smartphone zur Hand und rufe die App auf. Die Daten werden geladen. Für den Ausflug ist noch ausreichend viel Kraftstoff im Tank, prima. Aber wieso ist das Fahrzeug offen? Habe ich tatsächlich vergessen, es abzuschließen? Muss ich jetzt doch raus?

Nein, denn dafür gibt es in der App eine kleine Schaltfläche. Und mit der kann ich das Auto abschließen. Jetzt sofort. Ist das nicht toll?

Mein Finger schwebt schon kurz oberhalb der Schaltfläche, und seine Abwärtsbewegung ist bereits eingeleitet. Da fällt mir siedend heiß ein, dass ich das Fahrzeug gestern Abend zur Werkstatt gebracht habe, um dort einen Reifenwechsel und ein paar andere Serviceangelegenheiten erledigen zu lassen. Ich stoppe die Reise des Fingers und er verharrt gerade noch rechtzeitig. Mein Gehirn läuft hochtourig, die Synapsen übertragen fleißig alle Impulse meiner Gedankenreise. Und – so viel Zeit muss sein – draußen nieselt es!

Schamesröte steigt mir über die Wangen bis hoch zu den Ohren. Vor meinem inneren Auge sehe ich nämlich einen Servicemitarbeiter der Werkstatt, der gerade in mein Auto eingestiegen ist. Er will den Wagen zur Hebebühne fahren. Er schließt die Fahrertür. Und dann gehen plötzlich alle Knöpfe runter. Mit einem satten Sitt-und-Klack schließt die Türverriegelung. Dem nun eingeschlossenen Servicemitarbeiter fährt ein Schreck durch alle Glieder. Sein Unterkiefer klappt herunter. Sofort reißt der Servicemitarbeiter seine Augen weit auf, es bilden sich Querfalten auf seiner Stirn, und das unterstreicht sein Erstaunen. Ein kleines Grausen stellt alle Nackenhärchen senkrecht auf.

Natürlich weiß ich, dass er sich aus dieser Lage leicht befreien kann. Aussteigen geht immer. Ein Zug am Türhebel reicht aus, um sie von innen zu öffnen. Außerdem trägt er ja meinen Schlüssel bei sich. Dennoch schäme ich mich.

Mein Finger schwebt immer noch regungslos über dem Display. Vorsichtig und ein wenig zittrig ziehe ich ihn zurück. Nicht, dass ich am Ende doch noch die Schaltfläche betätige!

Ich schüttle mich, atme nochmal tief durch – und dann beeile ich mich wieder. Wie den ganzen Tag schon. Auf meinem Zettel steht ja jetzt zusätzlich noch: Auto aus der Werkstatt abholen!

Später laufe ich zur Werkstatt. Ich muss ein paar Sekunden warten. Ein Servicemitarbeiter betritt den Raum und grüßt freundlich. Über mein Gesicht huscht ein Schmunzeln über mich selbst. Wenn der wüsste …

Mein Fazit: Aus lauter Eile macht man manchmal echt schräge Sachen. Da ist es gut, wenn sich quasi vor der Eile doch nochmal ein vernünftiger Gedanke einschleicht, auf den es sich zu hören lohnt!

Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. Tom

    Hallo Miri,

    wie wahr das doch ist! Hättest Du diese Geschichte nicht vor ein paar Jahren für mich schreiben können?

  2. Die Technik, zu was sie uns so alles verführen kann!
    Das ist nochmal gut gegangen!
    Danke für das Schmunzeln heute!

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