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Vor der Silbe entschieden

Neulich sitze ich im Restaurant. Gitti tritt gerade aus und wird sicher bald wieder hier sein. Unsere Bestellung befindet sich in der Küche in Bearbeitung. Ich sitze einfach nur da und starre genüsslich ein Loch in die Luft. Und dann lausche ich kurz einem kleinen Wortwechsel am Nachbartisch.

Die Frau sagt zu ihrem Mann: „Wenn wir am Sonntag bei meinen Eltern sind, hältst Du Dich aber bitte mal zurück, ja?“ Er pariert mit einem knappen: „Kein Problem. Du lässt ja sowieso niemanden zu Wort kommen.“

Hui, das fängt ja gut an! Vor meinem inneren Auge kommt das Paar mit Blumen und vorab schon sorgfältig aufgebauter innerer Verkrampfung dort an. Alle bemühen sich darum, den Pflichttermin ohne offenen Streit zu überstehen. Es gibt Bussis an der Tür und anschließend Kaffee und Kuchen. Das ist gut, weil auf diese Weise alle beschäftigt sind. Sie können sich gegenseitig darum bitten, den Zucker oder die Milch herüberzureichen. Solche Mini-Gespräche und weitere Belanglosigkeiten festigen die Beziehung und helfen, den Burgfrieden zu halten. Das Herumwerkeln mit dem Besteck bietet zudem die Möglichkeit, sich kurzfristig auf etwas Praktisches zu konzentrieren. So manch verbaler Angriff wird mit der Kuchengabel niedergemetzelt, ohne dass als Antwort eine neue Beleidigung über den Tisch fliegt. Niemand muss voreilig Stellung beziehen, wenn er den Mund gerade voll hat. Werden sie die Situation meistern und der Eskalation entkommen? Leise wünsche ich Ihnen Glück.

Die Frau am Nachbartisch ignoriert seinen Einwurf. Zumindest scheinbar: „Ich bemühe mich eben um ein friedliches Zusammensein“, setzt sie an. Dann holt sie tief Luft. Seine Schultern sacken fast unmerklich nach unten.

Es kommt, wie es kommen muss: Die Tischnachbarin legt los, schwadroniert und formuliert vor sich hin, konstruiert einen langen Schachtelsatz – und sucht dabei scheinbar selbst nach ihrer Aussage. Ich glaube, sie hat noch keine Ahnung, was sie ihm genau sagen möchte. Oder am Ende des Satzes gesagt haben wird. Vielleicht traut sie sich auch nicht, ihr Anliegen knackig auf den Punkt zu bringen und weiß also nur nicht, wie sie es ihm sagen soll. Kann die Frau vom Nachbartisch zu diesem Zeitpunkt schon einschätzen, wie ihr Gesprächspartner auf das reagieren wird, was sie ihm eigentlich doch zu gerne einmal sagen möchte? Was, wenn die Nummer nach hinten losgeht? Ausgerechnet hier, quasi öffentlich!

Und er? Äußerlich teilnahmslos lässt der Mann die Tirade auf sich herunterregnen und kämpft still mit Pasta und Sauce.

Aus lauter Verzweiflung fährt sie damit fort, ausgiebig mit unserer schönen Sprache zu spielen.

Kennst Du das? Viele Zeitgenossen agieren so. Manche von ihnen sichern auf diese Weise zuerst einmal ihre Redezeit. Einmal im Redefluss, wird fabuliert. Der Redner erfindet seine Sätze und manchmal sogar schnell noch die Fakten, auf die er dann auch gleich verweist. Er lässt seiner Fantasie freien Lauf und schmückt aus, was das Zeug hält. In der Zwischenzeit sucht sein Hirn fieberhaft nach dem rettenden Ausgang seines Satzes. Er ringt um die Aussage, die er transportieren möchte, und zwar während er spricht. Das geht nicht? O doch!

Vorsilben helfen dabei ungemein. Schon ein kleines „un“ kann schließlich aus der Gewissheit eine Ungewissheit machen. Ein „nicht“ lässt sich zur Not auch ganz am Ende noch sinnverdrehend einfügen. Und so plaudern und plappern die Menschen aufs Geratewohl ihre Weisheiten in die Welt. Manche beobachten dabei, ob ihnen der geneigte Zuhörer immer noch gewogen ist. Falls erforderlich, retten sie sich mit einem kleinen sprachlichen Kunstgriff ganz am Ende des Satzes aus der Affäre. So auch nebenan.

Des Tischnachbars Teller ist nahezu geleert, das Bier in seinem Glas geht zur Neige. Der Mann von nebenan tupft sich mit der Serviette den Mund ab und reserviert jetzt seinerzeit Redezeit. Zu meiner Überraschung verfolgt er sprachlich nun dieselbe Taktik, die seine Partnerin schon vorgelegt hat. Will sie etwas einwerfen, strafft er seine Schultern, spricht eine Spur lauter und schneller. Sie kommt nicht dazwischen, weil es keine Atempause gibt, die sie nutzen könnte, um die Rede an sich zu reißen. Die Stimmung droht, vollends zu kippen.

Inhaltlich erfahre ich schnell, dass seine Schwiegereltern eine echte Zumutung sind und merkwürdige Ansichten vertreten. Alle beide! Falls ich ihr Glauben schenken mag, ist mein Tischnachbar ein überheblicher Ignorant, der ihren Eltern keinen Respekt zollt. Seine Darstellung weicht deutlich von ihrer ab und zeichnet das Bild eines sensiblen, rücksichtsvollen Mannes, der alles erduldet und stets gute Miene zum bösen Spiel macht. Streit gibt es immer wieder, weil der Schwiegervater sich gar nicht erst die Mühe macht, das Gesagte bis zum Schluss aufmerksam zu verfolgen. Vielleicht verliert er auch schlicht unterwegs den Faden. Kein Wunder bei den langen Sätzen! Im Bilden von Schachtelsätzen stehen sich die beiden Kontrahenten am Nachbartisch jedenfalls auf Augenhöhe gegenüber. Eigentlich ist das ein Hochgenuss, aber ich fühle mich in meiner Harmoniesucht gestört.

Mit Macht reiße ich mich vom Streitgespräch der beiden los. Gitti kommt endlich zurück und setzt sich mir gegenüber hin. So verdeckt sie meinen Blick auf den Nachbartisch und das streitende Paar ein wenig. Das tut gut. „Da bist Du ja wieder“, freue ich mich.

Dann erzähle ich Gitti, dass es ja leider recht viele Menschen gibt, die schon nach wenigen Silben beschließen, wohin die Rede des anderen führen wird. „Sie gleichen den Rest, der in ihre Ohren dringt, dann nur noch oberflächlich mit ihren Erwartungen ab“, führe ich aus und fahre fort: „Die tollsten Missverständnisse liegen genau hier begründet! Dann kommt der Klassiker: Die Menschen verheddern sich in den Unterschieden zwischen dem gesprochenen Wort und der Absicht, die dem Redner bei der Verarbeitung im Hirn des Zuhörers flugs unterstellt wird. Schnell geht es um große Emotionen!“

Gitti ist erstaunt ob meines Redeschwalls und fragt, was ich eigentlich in den letzten Minuten gemacht habe, während sie zu einem deutlich stilleren Ort unterwegs war.

Ich versuche, sie ins Bild zu setzen. Schnell beschließen wir, uns erfreulicheren Themen zu widmen. Zum Glück wird jetzt auch unser Essen gebracht. Zunächst versinken wir still im Genuss, dann diskutieren wir angeregt und mit gegenseitiger Aufmerksamkeit die Ereignisse des hinter uns liegenden Tages.

Auf dem Heimweg fällt mir das Paar wieder ein und ich frage Gitti: „Was meinst Du? Welche Berufe üben die beiden vom Nachbartisch wohl aus?“ Gitti lacht und fragt: „Und was würdest Du denken, was ich für einen Beruf habe?“ Da muss ich nicht lange überlegen. „Einen, bei dem vor der Silbe entschieden wird, worum es geht!“

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