Gitti und ich wuseln durch die Küche und bereiten uns ein leckeres Frühstück zu. Gittis Tasse steht auf der Kaffeemaschine, teils umringt von Zimt und Zucker. Ich halte höchstens eine Millisekunde lang ein, ziehe die linke Augenbraue nach oben, greife nach der Tasse und trage sie zum Tisch. Gitti muss das mitbekommen haben. Unaufgefordert erklärt sie mir: „Meine Hand hat schon mal angefangen zu zittern. Ich bin einfach zu schnell für diese Welt.“
Innerlich drehe ich die Zeit zurück. So kann ich fast in Zeitlupe sehen, was passiert ist: Gitti ist mit einem Löffelchen unterwegs. Darauf ein winzig kleines Häufchen Zimt, vermischt mit etwas Zucker. Oben auf der Kaffeemaschine wartet ihre Tasse, darin ein herrlich duftender Cappuccino. Weil Gitti von sich selbst erwartet, schnell zu sein, reckt sie Arm und Löffel der Tasse bereits unterwegs entgegen – und dann zittert sie ein wenig mit der Hand, um Zimt und Zucker hübsch vom Löffelchen herunterzuschütteln und so über der Milchschaumhaube ihres Getränkes zu verstreuen. Ein Kunstwerk der Bewegung und ein Kunstwerk der Dekoration!
Ihr Zeitmanagement gerät durcheinander, als ich sie auf diesem Weg anspreche und eine Frage stelle. Unmerklich drosselt Gitti ihr Schritttempo, beginnt aber gemäß des bis zu diesem Moment noch geltenden Zeitablaufs mit dem krönenden Handzittern. Das ist die einzige Erklärung dafür, dass jetzt nur ein Teil der Deko auf dem Cappuccino gelandet ist.
Ich fühle mich schuldig. Das geht auf mein Konto. Und Gitti ist jetzt ein bisschen wie Archimedes, dem dieser Spruch zugeschrieben wird: „Noli turbare circulos meos!“ Auf Deutsch übersetzt ist mir der Spruch geläufiger und lautet: Störe meine Kreise nicht! Eigentlich wird er verwendet, wenn jemand nicht gestört werden möchte, und zwar egal, wobei.
Die wesentlichen Unterschiede in den Geschichten bestehen allerdings darin, dass Gitti den Satz nicht sagt, ich kein betrunkener Soldat bin und Gitti die Szene überlebt. Meine Assoziation zu dem berühmten Spruch ist komplett unpassend. Die Szene mit Archimedes hat mit der in unserer Küche rein gar nichts gemein. Der berühmte Mathematiker und Physiker hockt der Legende nach nämlich in Syrakus herum und malt Kreise in den Sand. Er beschäftigt sich mal wieder mit einem geometrischen Problem. Die Römer erobern just zu dieser Zeit Syrakus. Ein Soldat will Archimedes festnehmen, der fühlt sich gestört, also herrscht er den Soldaten mit dem heute berühmten Spruch an – und der Soldat regt sich darüber derart auf, dass er Archimedes erschlägt.
So, jetzt fühle ich mich endgültig schlecht und schäme mich leise. Jedenfalls eine kleine Weile lang.
Gitti weiß von alledem nichts. Das ist gut so. Ich schnappe mir einen Lappen und wische die Spuren, die von dem Vorfall zeugen, einfach weg.
Beim Frühstück wirkt Gitti immer noch ein bisschen unglücklich. Ob sie wohl meinen inneren Ausflug gespürt hat? Jedenfalls beschwert sie sich darüber, dass sie nicht so „dappig“ sein will, wie man hier gerne sagt. Ich empfinde Gitti nicht als dappig, also sage ich ihr das auch. Weil sie dennoch betrübt guckt, ergänze ich noch: „Deine Hand hat halt einfach vorauseilend gezittert.“
Gitti denkt die Dinge häufig vom anderen Ende her als ich. In solchen Fällen brauchen wir eine Weile, bis wir merken, dass wir uns schon längst einig sind. Wir argumentieren in der Zwischenzeit leider nur in entgegengesetzte Richtungen. So ist es auch in diesem Fall. Es beginnt mit: „Du meinst, ich bin zittrig?“ Gitti wirkt echt getroffen.
„Nein, das meine ich nicht! Für mich ist das Zittern ja geradezu ein geplanter und notwendiger Bestandteil Deines Cappuccino-Dekorier-Akts. Nur eben zu einem etwas späteren Zeitpunkt ausgeführt.“ Gemeint habe ich, dass der geplante Zitter-Zeitpunkt später lag. Sie hätte erst zittern sollen, wenn der Löffel schon über der Tasse schwebt und nicht schon auf dem Weg dorthin. Sie musste zittern, um den Cappuccino so schön zu verzieren. Ohne Zittern wäre das Kunstwerk misslungen. Aber so detailliert habe ich das nicht ausgeführt. Zudem hätte Gitti es andersherum formuliert. Also korrigiert sie umgehend: „Zu einem früheren Zeitpunkt!“ Ich versuche, das Gesagte in eine sprachlich korrekte Abfolge zu sortieren, die am Ende unmissverständlich den Sinn macht, den ich ausdrücken möchte. „Du hättest erst später zittern sollen, um die Tasse zu treffen“, wage ich einen Erklärungsversuch. Gitti sagt: „Das ist doch klar! Was willst Du mir eigentlich sagen?“
Ob Gitti noch verdaut, dass ich vielleicht glauben könnte, sie sei doch schon zittrig? Mit dem Finger male ich eine Zeitachse auf den Tisch. Etwas krumm, denn ich muss dafür am Geschirr vorbei, wenn ich nichts umwerfen möchte. Gitti guckt amüsiert zu. Ich finde Argumente für den „späteren Zeitpunkt“. Wir kommen nicht weiter und wissen bald nicht mehr, wer von uns wann was genau gesagt hat. Weder Gitti noch ich finden das jetzt noch wichtig. Längst kichern wir gemeinsam über die Vorstellung, dass Gittis Hand so großen Respekt vor Gitti hat, wenngleich sie ja auch ein Teil von ihr ist. Völlig eingeschüchtert zittert diese Hand nun also unkontrolliert vor sich hin, weil sie sonst vielleicht zu spät einen von Gitti angeordneten Streuvorgang ausführt. Oder sonst etwas. Nicht auszudenken! Am Ende lägen Zucker und Zimt gar noch hinter der Tasse! Wieder nichts gewonnen!
Noch Tage danach lachen wir über das vorauseilende Zittern. Eine kleine Geste reicht aus, um Gitti und mich wieder in diese Stimmung zu versetzen. Einfach herrlich!
… eine herrliche Stimmung, um einen Cappuccino – meisterlich dekoriert oder durch äußere Einwirkung leicht verunglückt – zu genießen!
Was für ein Abenteuer um einen Cappuccino!
Das Lachen, Tage danach ist das schönste an
dieser Story!