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Wandle mit mir

Noch etwas verschlafen nippe ich an meinem Cappuccino. Gitti fragt, ob ich heute früher Feierabend machen kann. Erläuternd ergänzt sie, dass sie mit mir wandeln möchte.

Wandeln? Ich soll etwas wandeln? Was könnte das sein? Wasser in Wein wohl nicht, denn dafür fühle ich mich nicht zuständig. Was dann? Fieberhaft suche ich nach Möglichkeiten und halte Gitti derweil mit einem vagen „Hmmm“ hin. Parallel dazu visualisiere ich meinen Bürokalender. Was steht heute alles an? Kann ich früher weg? Lassen sich ein paar Vorhaben beschleunigen oder verschieben? Dann drängt sich die Frage wieder in den Vordergrund, was ich ausgerechnet heute mit ihr zusammen wandeln soll. Vielleicht potenzielle in kinetische Energie?!?

Ja, das könnte die richtige Spur sein! Kinetische Energie ist schließlich Bewegungsenergie. Potenzielle Energie kann sich beispielsweise aus meiner Lage ergeben. Hier oben im Bett befinde ich mich einige Meter über dem Erdboden. Nimmt man jetzt überraschend das Bett und das Haus weg, dann falle ich runter. Dabei wandelt sich meine potenzielle Energie in kinetische Energie um. Die potenzielle errechnet sich in diesem Fall aus dem Produkt meines Gewichts, meiner Position über dem Erdboden und der Erdbeschleunigung. Hätte ich gestern weniger essen sollen? Oder lieber mehr??

Bevor ich mir alle weiteren Formeln zum Energieerhaltungssatz ins Gedächtnis rufe, will ich Gitti endlich eine Antwort geben. Aber wo will sie bloß mit mir hin?

Ich frage vorsichtig nach, bis wann ich denn Feierabend machen müsste. Gitti zeigt mir auf der Wetterapp, dass es heute sonnig wird. Dann sagt sie, dass wir bei Einbruch der Dunkelheit vor Ort sein sollten und nennt mir eine krumme Uhrzeit, zu der wir infolgedessen in die S-Bahn steigen müssen. Ich löffle ein wenig Milchschaum aus der Tasse. Lecker!! Einen kurzen Moment lang spüre ich still und andächtig dem herrlichen Geschmack nach – so viel Zeit muss sein.

Jetzt sage ich Gitti zu, rechtzeitig verfügbar zu sein. Dann fällt mir ein, dass wir kürzlich darüber berieten, wann wir auf den leuchtenden Traumpfaden wandeln wollen, die zurzeit im Blühenden Barock in Ludwigsburg zu bestaunen sind. Deshalb hat Gitti mich also auch auf das schöne Wetter hingewiesen. Online gebuchte Tickets gelten bei dieser Veranstaltung zugleich für den öffentlichen Nahverkehr. Endlich bin ich voll im Bilde. Sofort steigt große Vorfreude in mir auf. Auf fein, das wird bestimmt ein tolles Erlebnis!

Beschwingt stehe ich auf, widme mich bald meinen Arbeitstag und beeile mich mächtig, um rechtzeitig mit Gitti zusammen unser Freizeitprogramm starten zu können. Work lässt sich ohne Life schlecht ausbalancieren!

Bereits auf der Fahrt malen Gitti und ich uns genüsslich das Wandeln auf den Traumpfaden aus. Mit der Dämmerung treffen wir am Ort des Geschehens ein. Zunächst gönnen wir uns ein Gläschen Wein und essen ein kleines Häppchen. Dabei nehmen wir schon die schöne Atmosphäre wahr, die im Schlosspark herrscht. Dann lassen wir uns bereitwillig auf das Wandeln ein. Uns erwarten geheimnisvoll illuminierte Pfade, die durch den Schlossgarten,  einen Teil des Märchengartens und eine Kürbisausstellung führen. Wo immer es Brunnen gibt, tanzen Wasserfontänen im Licht. Stimmungsvolle Musik begleitet uns auf den geheimnisvollen Wegen.

Im Märchengarten werden kleine Elfen in die Luft projiziert. Kinder rappeln heftig am Tor des launischen Rübezahls, der sich mit entsprechendem Getöse und von Nebel umweht über die Mauern seines Wunderkräutergartens erhebt, den er so gegen unliebsame Eindringlinge verteidigt. Im von einer Nebelmaschine erzeugten Nebel verliere ich Gitti für kurze Zeit, weil sie nicht mitbekommen hat, dass ich gerade noch ein paar meiner Eindrücke filmisch festhalten möchte. Bald darauf taucht aus dem Nebel ein Gespenst auf, das sich bei näherem Hinsehen als Gitti entpuppt. Beherzt nimmt sie mich an die Hand und bedeutet mir, weiter wandeln zu wollen. Ich komme ja schon!

Ein Feld voller kunstvoll ausgehöhlter und leuchtend in Szene gesetzter Kürbisse, außerdem stimmungsvoll angestrahlte Bäume und immer wieder überraschende Lichtspiele säumen unseren weiteren Weg. Eine Frida Kahlo-Figur blickt ernst auf uns herab und Bibi Blocksberg reitet elegant auf ihrem Besen. Sogar Justitia steht stolz mit Waage, Schwert und Augenbinde vor dem Schloss, gewandet in ein luftiges Kürbiskleid. Sowohl Gitti als auch ich fühlen uns aufgehoben, behutsam von der magischen Atmosphäre umfangen und werden ganz still. Es ist ein Fest für die Sinne.

Am Ende des Weges verweilen wir noch ein bisschen.

Wir bemerken, dass es schon spät ist, und so reißen wir uns schließlich doch los und begeben uns auf den Heimweg. In den nächsten Tagen klingen die Eindrücke in mir immer noch nach. Ganz leicht kann ich der magischen Stimmung tagelang nachspüren – und so wandle ich in Gedanken nun wieder und wieder auf diesen wunderbaren Traumpfaden.

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