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Warum oder wozu

Da ist aber mächtig was schiefgelaufen! Und jetzt? Jetzt wird gesucht, und zwar nach dem Schuldigen! Dazu beruft Serviceleiter Mike eine Besprechung ein, und in der sitze ich nun zusammen mit zehn weiteren Leuten aus unterschiedlichen Bereichen.

Die Einladung war kurzfristig, dringlich formuliert und enthielt keinerlei konkrete Hinweise. Immerhin stand irgendwo im Text der Name eines Kunden. Der Repräsentant des Vertriebs ist gar nicht erst gekommen. Nach fünf Minuten ruft Mike ihn demonstrativ an und dreht sofort die Lautstärke seines Telefons voll auf, damit auch alle hören können, wie er den Kollegen für seine unverschämte Verspätung rund zu machen trachtet und wie dieser sich dann winden wird. Und Mike ist dann auch der, für den das nach hinten losgeht: Der Vertriebler ruft fröhlich in sein Telefon, dass er für solch einen Quatsch wirklich keine Zeit hat und sagt, dass er selbstverständlich gerne kommt, wenn er sich auf etwas Konkretes vorbereiten kann. Das schlägt ein, wie eine Bombe. In mindestens sechs Gesichtern kann ich lesen: „Gute Idee. Warum ist mir das nicht eingefallen?“

Mike würde am liebsten schreien: „Du bewegst jetzt sofort Deinen Arsch hierher!“, aber er läuft nur gefährlich rot an und sieht zu, dass er mit einem pampigen „Du mich auch!“ aus dem Gespräch kommt. Sein Telefon pfeffert er mit großer Geste auf den Tisch. Es rutscht in kleinen Spiralen auf mich zu. Das Display leuchtet noch, also drücke ich auf das kleine rote Symbol, mit dem man das Gespräch beenden kann und lege es neben mich.

Nach kräftigem Schnauben fängt sich Mike und beginnt endlich, von dem Problem zu berichten, das uns diese Besprechung beschert hat. Sein Mitarbeiter Karl ist gerade beim Kunden. Mir wird klar, dass es um das Projekt geht, das mein Kollege Hajo betreut. Ich freue mich insgeheim, denn dann bin ich schon mal nicht schuld. Hajo hat leider gerade Urlaub und deshalb sollte ich jetzt hierbleiben und ihn vertreten. Na gut, ich lehne mich also zurück und genieße das weitere Schauspiel.

„Der Karl brennt lichterloh!“, erfahren wir von Mike. Mit anderen Worten: Der Kunde ist stinksauer. Karl kann seine Heimreise wahrscheinlich nicht wie geplant übermorgen antreten, weil der Kunde seinen Reisepass einkassiert hat. Natürlich, um sicherzustellen, dass die Anlage läuft, bevor Karl abreist.

Wir beschweren uns erstmal über die schrägen Methoden. „Das kann der Kunde doch nicht machen! Wo sind wir denn?“, empört sich der Werkstattleiter. Na ja, wir sind hier und die Anlage steht in einer Ecke der Welt, in der man mit Servicetechnikern etwas anders umgeht als bei uns. Niemand interessiert sich in diesem Moment für das technische Problem, erst recht nicht für seine Lösung. Stattdessen konzentriert sich die Diskussion schnell auf mögliche Eskalationsschritte. Da muss doch einer dem Kunden mal sagen, dass es so nicht geht! Der Einkaufsleiter schlägt vor, dass Mike unseren Geschäftsführer anruft, damit der dann dem Kunden den Rost runtermacht. Mike möchte jetzt lieber nicht telefonieren. Konstrukteur Rudi schlägt vor, dem Kunden anzudrohen, dass wir ihn von der Kundenliste streichen. Alle anwesenden Abteilungsleiter fallen über Rudi her.

Nach einer Weile versuche ich, etwas über das eigentliche Problem herauszufinden und frage: „Die Anlage läuft nicht, Mike? Gar nicht oder nur nicht optimal?“ Alle gucken mich an, als wäre ich übergeschnappt. Bin ich herzlos, nur weil ich frage, was überhaupt passiert ist? Mike berichtet jetzt etwas genauer. Karl hat angerufen, er sagt, dass die Anlage läuft. Aber der Kunde unterschreibt das Protokoll nicht. Es folgen ein paar technische Details, die Gründe für die verweigerte Unterschrift liegen für mich jedoch immer noch im Nebel.

Plötzlich schaltet sich Konstrukteur Rudi wieder ein: „Ich habe die Teile schon vor drei Wochen aufgegeben!“ Er ist erleichtert, denn damit ist klar, dass er nicht schuld ist. Alle Köpfe drehen sich zum Leiter der Arbeitsvorbereitung hin. Der stupst seinen neben ihm sitzenden Mitarbeiter an, und der wiederum sagt: „Da weiß ich jetzt nichts von.“ Rudi läuft vor Empörung rot an, hilft ihm aber auf die Sprünge: „Doch, das weißt Du sehr wohl, das war nämlich an dem Tag, als Deine Frau die Jacke vorbeigebracht hat.“ Ja, ach so, diese Teile, klar, an die kann er sich erinnern. „Dann hab‘ ich die auch losgetreten“, versichert er. Der Ball fliegt weiter.

Mit zunehmender Zeit entfernt sich die Diskussion mehr und mehr vom zu lösenden Problem. Es geht jetzt vor allem darum, warum die Teile so spät auf die Reise gegangen sind. Der Konstruktionsleiter ist nicht anwesend, also wird ihm bald die Schuld zugewiesen. Bestimmt hat er die Prioritäten falsch gesetzt, und deshalb konnte Rudi die Teile erst so spät konstruieren und dann war in der Arbeitsvorbereitung der Teufel los, also tragen die da auch einen Teil der Schuld. Außerdem war Karls Bericht so grottenschlecht, dass erstmal zu klären war, was überhaupt zu tun ist. Ist er jetzt am Ende selbst dafür verantwortlich, dass er nicht abreisen kann? Mike verteidigt Karl, immerhin geht es um seinen Mitarbeiter. Die Nummer wird immer skurriler.

Ich wage die Frage, wozu es jetzt wichtig ist, den Schuldigen auszumachen. Das können wir auch später noch klären, und dann fällt uns bestimmt auch ein, wodurch es in Zukunft besser laufen wird. Was können wir konkret tun? Wer kann etwas beitragen?

Das Hauen und Stechen verlagert sich darauf, wer die Besprechung vorzeitig verlassen darf. Der Chef der Elektroabteilung ist fast traurig darüber, dass es ihn nichts mehr angeht und er dem Showdown nicht länger beiwohnen kann. Andererseits ist er sowieso völlig überlastet, das hat er uns jedenfalls schon zu Beginn der Besprechung wissen lassen. Dies hier ist eine gute Gelegenheit für ihn, nochmal ausdrücklich auf seine gigantische Arbeitslast hinzuweisen, also badet er bei seinem Abgang noch eine genüssliche Runde in Selbstbeweihräucherung. Ohne ihn geht ja gar nichts voran, findet er! Der Kreis wird kleiner. Jetzt geht es endlich um Lösungen. Wir beraten und vereinbaren geeignete Maßnahmen. Mike macht sich auf den Weg in sein Büro. Gleich wird er sowohl mit dem Kunden als auch mit Karl reden.

Am Nachmittag treffe ich Mike in der Werkstatt wieder. Er konnte den Kunden mit unseren geplanten Maßnahmen überzeugen. Karl wird planmäßig reisen können. Ein weiterer Service-Einsatz vor Ort ist verbindlich geplant. Na prima.

Auf dem Heimweg denke ich über den Tag nach. Mich beruhigt, dass es in anderen Firmen ähnlich zugeht. Die Belegschaft einer Firma bildet in der Regel einen guten Querschnitt unserer Gesellschaft ab. Es menschelt überall, und das ist gut so. Mir fällt auf: Fragt jemand nach dem „Warum“, geht es häufig darum, wem die Schuld zuzuweisen ist. Die Frage richtet sich nämlich meistens auf die Vergangenheit. Wer schuld ist trägt die Verantwortung und muss sich kümmern. „Wozu“ hingegen schaut in die Zukunft. Auch wenn ich frage, wozu etwas vor geraumer Zeit beschlossen wurde, beschäftigt sich das eben mit einer Zukunft, die man zum Zeitpunkt der Entscheidung im Blick hatte.

Immer häufiger ersetze ich das „Warum“ durch ein „Wozu“. Und jedes Mal staune ich, wie gut es dabei hilft, Probleme in Lösungen zu überführen – beruflich wie privat.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Mauro und Gianna

    Bildlich nachvollziehbar, eine typische Besprechung ohne Lösung! Köstlich amüsiert hat uns die Vorstellung, wie du zu schlichten versuchst, während der Suche nach dem Schuldigen!

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